EisTau
steileren Gelände hatte ein Eisstummel im Schatten eines schreibtischgroßen Steins als vorübergehende Stütze überdauert. Ich legte mein Notizbuch ab. Der Wind blätterte es auf. Was hatten wir nicht alles gemessen und gewogen, wie viele Bilanzen hatten wir erstellt, wie viele Modelle, wie viele Mahnrufe wissenschaftlichformatiert. Voller guter Absichten sind die Seiten der Vergeblichkeit, sie müssen zerrissen werden, jede einzelne, unsere Methoden haben versagt. Wir hatten gewarnt, vergeblich, es war von Jahr zu Jahr schlimmer gekommen. Unsere Epoche löst kassandrische Prophezeiungen strebsam ein, selbst die Zuversichtlichen melden sich mit Unkenrufen zu Wort. Solch eine Zerstörung hatte ich trotz alledem nicht vorhergesehen, nicht, als das Gletschertor verschwand (ich feierte meinen Fünfzigsten), nicht, als die Zunge bei einem Eissturz abriß und in der Folge rasch schmolz (ich feierte meinen Sechzigsten), und nun dieser Anschlag aus dem toten Winkel unseres Zweckoptimismus. Wenn selbst die Fachleute von der Rasanz der Untergänge überrascht werden, wer kann noch rettend eingreifen, wessen Standpunkt spielt noch eine Rolle, da alle anderen auf die schweinehündische Stimme ihrer Bequemlichkeit hören? Meine Arbeit hatte darin bestanden, unsere Verfehlungen zu dokumentieren – der Beichtvater als eingebildeter Wissenschaftler. Ich hieb mit meinen Fäusten auf den steinernen Tisch, im Schmerz fielen mir die Mädchen aus dem Zug ein, diese drei schwer am Kaugummi des Lebens kauenden Mädchen, die gemeinhin als unschuldig gelten. Was für einen Wert hat solch eine Unschuld, da wir wissen, sie werden schuldig werden, es steht ihnen und uns bevor, sie werden diese Verwüstung fortsetzen, sie werden weiterhin unsere Lebensgrundlagen zerstören. Sie pfeifen sich nichts, wie die meisten von uns, sie werden nicht ruhen, bis sie alles verbraucht verdreckt verschwendet vernichtet haben. Am nächsten Morgen reiste ich ab. Im benachbarten Tal waren die verbliebenen Eisflächen mit Leichentüchern überzogen, mit weißer Jute, unter der einausgemergelter Gletscher röchelte. Ich kam mir vor wie ein Arzt im Hospiz.
Wir nannten es »schwimmen«. Im Eisfluß schwimmen. Wenn wir uns in die Mühlen wagten, in die Eiskanäle, um sie als Rodelbahnen zu nutzen, wenn wir durch Tunnel krochen, uns den Windungen anvertrauten, als sei der Gletscher verpflichtet, uns zu schützen, auf dem Hosenboden durch Röhren reinsten Blaus rutschten. Es war gefährlich, in Maßen gefährlich, wir hatten zuvor überprüft, welcher Ausgang uns erwartete, auch wenn wir die Beschleunigung manchmal falsch einschätzten und aus dem Kanal schossen wie eine Kanonenkugel und es von unten her donnerte, so daß selbst derjenige, der sich die Schmerzen von der Hose abklopfte, über den akustischen Kommentar des Gletschers lachen mußte. Ja, wir sammelten blaue Flecken, wir lernten den Gletscher kennen, wir steckten unsere Nase in jede Spalte, wir vermeinten zu hören, wie das Eisgeheuer auf eigenem Wasser ins Tal rutschte, und staunten über die Farbenpracht in dem scheinbar monochromen Universum. Wir schärften unseren Blick (nicht nur unter dem Polarisationsmikroskop) für seine delikate Farbigkeit, die Buntheit im Flachland erschien uns im Vergleich plump. Wo das Eis hart wie Alabaster war, fanden wir blaue Höhlen, die wir mit dem Gedanken betraten, daß wir sie beim nächsten Besuch nicht wiederfinden würden. Dann trennten sich unsere Wege, manche von uns eilten in die Stadt, andere zogen sich ins Tal zurück, schließlich blieb ich der einzige, der zwischen Gletscher und Universität pendelte, überließ mich an einsamen Tagen der Eisesstille, dem Wasserklang, ich wurde zueinem Stein, der seine eigene Spur ins Eis walzte, und eines Tages überraschte mich der Wunsch zu beten, in einer der blauen Eintagskapellen, nicht zu Gott (schon dieses Wort, wie unmöglich, dieses zweite ›t‹, wie ein didaktisches Ausrufezeichen), sondern zu Vielfalt und Fülle (hingeschrieben wirkt es hölzern, es reicht nicht aus, »Gott« durch »Gaia« zu ersetzen). Allein suchte ich im klarsten und kältesten Blau Einsicht, füllte die eisigen Höhlen mit meinen eigenen Varianten des Ewigen, so wie die Mönche einst ihre felsigen Höhlen mit Zeichnungen. Wieso genügte ihnen die steinerne Oberfläche nicht als Abbildung des Göttlichen, die Verwitterungen, die feuchten Flecken? Deum verum de Deo vero, kann das Wahre in so einem Satz hausen? In meiner blauen
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