Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
EisTau

EisTau

Titel: EisTau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
Vom Netzwerk:
von ihnen zu treten. Die jüngeren flitzen ins Wasser, biegen sich im Sprung, schütteln sich heftig aus, kaum sind sie wieder an Land gerobbt. Zwischen Anker und Schiffsschrauben (losgelöst von ihrer Bestimmung taugen sie nur zum grotesken Strandgut) halten einige Eselspinguine Wache, spöttische Blicke hinter roten Schnäbeln. An der Mole zeigt die ALBATROS seit Jahrzehnten demonstrativ Schlagseite, die Harpunenkanone inzwischen landwärts gerichtet.
    – Hallo, hallo, da ist doch unser Expeditionsleiter, was für ein interessanter Ort, nicht wahr; wie Sie ja sagen, hier haben sich Antarktis und Mensch kennengelernt, etwas dreckig allerdings, das gehört aufgeräumt. Wissen Sie, was das für ein Gebäude war?
    – Auf der anderen Seite, am Hauptweg, stehen Tafeln mit detaillierten Informationen.
    – Sie wollen uns doch nicht noch einmal durch den ganzen Matsch schicken, Mr. Zeno, jetzt, wo wir Sie getroffen haben.
    – Das war die Trankocherei, Mrs. Morgenthau. Man hat die Wale zuerst zerlegt, hier, wo wir gerade stehen, dann wurde in der Kocherei in riesigen Kesseln aus dem Speck Tran gewonnen.
    – Das hört sich nach schwerer Arbeit an.
    – Lohnende Arbeit. Hohe Rendite. In einem guten Jahr verkochte man bis zu vierzigtausend Wale.
    Ich verabschiede mich höflich, sonst hätte ich noch ausführen müssen, daß zuerst die Pelzrobben gehäutet wurden, bis die Robben ausgingen, dann die See-Elefanten zur Ölgewinnung erschlagen und die Kochöfen mangels Brennstoff mit Pinguinen geheizt wurden, und als die See-Elefanten ausgingen, verkochte man die Pinguine zu Öl. Alles wurde verwertet – dem tatkräftigen Menschen gelingt es immerzu, der Natur ihren verschwenderisch nichtsnutzigen Umgang mit den eigenen Ressourcen vorzuführen. Ich stapfe über den leicht abschüssigen Fußballplatz. Schiefe Tore sind ein tröstlicher Anblick. Am Vormittag schlachten, am Nachmittag auf diesem Acker Fußball spielen. Stanken die Hände des Torhüters, waren Blutspritzer auf den Schienbeinen der Stürmer? Du bist immer so negativ, höre ich die anderen monieren, das verdirbt einem die Laune. Laß doch mal gut sein. In dieser Tonart plätschert es um mich herum von früh bis spät, nimm es dir nicht so zu Herzen, laß fünfe gerade sein, drück ein Auge zu, wird schon nicht so schlimm sein, nichts wird so heiß gegessen, wie’s gekocht wird, alle haben dieselbeVerharmlosungssoftware heruntergeladen, bereit zu kauern, wenn es stürmt. Welchen Spruch hätten die Leute auf ihren fröhlichen Lippen gehabt, wenn sie zu Pfingsten, als der Sommer seine Herrschaft bereits etabliert hatte, in die Klinik eingeliefert worden wären, mit beharrlichen Schmerzen im Brustbereich, zu einer Woche der Untersuchungen? Keile bohrten sich in meinen Körper, als müßte der Schmerz aus der Tiefe heraufgeholt werden, Tage des Wartens auf die überlebensnotwendige Operation, drei Monate Rekonvaleszenz, und nach der Entlassung, laut Diagnose (fast) vollständig wiederhergestellt, stellte ich meine Tasche zu Hause ab und eilte sogleich zum Gletscher, unverständige Blicke von Helene im Rücken.
    Ich saß in einem Abteil mit Fremden, deren Anblick mir aufstieß. Die Frau mir gegenüber, keine Enttäuschung älter als ich, band behutsam die Schlaufe einer Konfektschachtel auf, entfernte die marmorierte Abdeckung und legte sie vorsichtig auf den freien Sitz zu ihrer Linken, positionierte ihre Finger wie den Greifer eines Krans über die auserkorene Praline und entfernte diese mit klinischer Präzision aus der Schachtel. Die Praline verschwand schnell zwischen ihren lilienblassen Lippen, sie kaute kaum merklich, während sie die Schachtel schloß und die Schlaufe wieder zusammenband, nur um einige Minuten später erneut an ihr zu zupfen, das gesamte pedantische Vorgehen zu wiederholen; nach jeder Pralinenentnahme sah die Schachtel so unangetastet aus, als sollte sie noch verschenkt werden. Wenn die Frau bis nach Kufstein oder gar Klagenfurt unterwegs sein sollte, würde sie mit einer elegant verschnürten Schachtel ohne Inhalt ankommen. Der Mann am Fenster verwahrte sich gegen die sichaufplusternde Landschaft mit aufgeschlagener Zeitung, zuerst BILD, dann KRONE. Er legte eine wohlhabende Erscheinung an den heißen Spätsommertag, er war ein Bürger auf dem Sprung in die erste Klasse, leichte Ränder verrieten, daß die pauschaltouristischen Aufkleber auf seinem Koffer wieder entfernt worden waren, vielleicht verfügte er seit dem Bekleben über

Weitere Kostenlose Bücher