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EisTau

EisTau

Titel: EisTau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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geschmacklichen Beistand. Er studierte das eine Blatt von vorn bis hinten, mit vergleichbarer Hingabe widmete er sich in Folge dem anderen. Diese Hochachtung vor feisten Schlagzeilen und mickrigen Anzeigen reizte mich. Ich mußte das Abteil für eine Weile verlassen. In Salzburg stiegen drei Mädchen mit unbeschriebenen Gesichtern zu. Sie schienen uns Alteingesessene nicht wahrzunehmen. Die Frau genehmigte sich noch eine Praline, der Mann war weiterhin in die KRONE versunken, die drei Mädchen ergötzten sich am schuleigenen Tratsch; als der Zug auf offenem Feld hielt, überfiel mich die Angst, in diesem Abteil festzusitzen, der Ausblick verhindert von der KRONE, zu essen nichts außer einer letzten Praline, im Ohr die Leere der Jugend, und niemals mehr zu meinem Gletscher zu gelangen. Der Zug fuhr wieder an, ich beruhigte mich ein wenig, ich wußte nicht, daß es schlimmer kommen würde. Der Wirt von der Herberge Zum Kogl holte mich ab, damit ich in meinem angeschlagenen Zustand nicht auf den Bus warten mußte, ein Hund in Flokati hechelte im Stauraum seines Geländewagens, ich sag’s Ihnen gleich, es wird Ihnen nicht gefallen, es hat sich einiges getan, es wird Ihnen nicht gefallen, die Serpentinen nahmen kein Ende, zu beiden Seiten eine kahle Landschaft, ohne Schnee und Eis sind die Alpen von grober Häßlichkeit, wie es mich freut, daß Sie wieder wohlauf sind, wir haben fürSie gebetet, die ganze Familie, der Wirt hat sieben Töchter, oder sind es acht, auf jeden Fall hat er nur Töchter, Beten ist ihm nicht fremd. Kurz war ich abgelenkt von einem bergab rasenden Rennradler, da bog der Wagen links ab, die Räder knirschten im Schotter, ich blickte nach vorn, durch die Windschutzscheibe, und vor mir war … nichts. Kein Gletscher. Kein lebender Gletscher. Bruchstücke nur, einzelne Glieder, als wäre sein Leib von einer Bombe zerfetzt worden. Der Steilabfall war noch vereist, doch weiter unten, vor uns, waren nur noch Brocken eingedunkelten Eises über den Hang verstreut, wie Bauschutt, der darauf wartet, entsorgt zu werden. Alles Leben war ausgeapert. Ich hab’s Ihnen ja gesagt, das wird Sie schwer angehen, das ist kein schöner Anblick. Die Stimme des Wirtes verdunstet in meiner Erinnerung, und ich, das berichtete er mir am Abend bei Bier und Tafelspitz, ich sei wortlos aus seinem Wagen gestiegen, sei schwerfällig von Eisstück zu Eisstück gegangen, verwirrt wie ein Betrunkener oder ein Blinder, da habe er, dies sagte am Abend der Wirt, an die Seuchenzeit denken müssen, als sich die Bauern verabschiedet hätten von dem Vieh, das getötet werden mußte. Ich war zu einer solchen Geste nicht fähig, meine Gedanken und Gefühle wie gelähmt. Ich kniete mich nieder neben einem der Überbleibsel, unter dem Kohlestaub, unter der rußgeschwärzten Oberfläche war reines Eis, ich strich mit meinen Fingern über die Kälte, dann über mein Gesicht, nach gewohnter Manier, mein Begrüßungsritual, früher konnte ich mit vollen Händen schöpfen, im frischen Schnee, mit Händen, die so kalt wurden, daß sie mein Gesicht belebten. Ich leckte meinen Zeigefinger ab, es schmeckte nach nichts. Erst jetzt stieß in mir ein erster belangloser Gedanke auf: Ichwürde nie wieder Adelholzener-Flaschen mit Gletscherwasser füllen, um zu Hause genüßlich daran zu nippen. Ich bedeutete dem Wirt, der neben seinem Geländewagen stehengeblieben war, mit schroffer Geste, er möge mich allein lassen. Ich legte mich auf das Geröll. Zusammengekrümmt lag ich da, ein Häufchen Elend, jedes Gefühl, das nicht auf mir lastete wie ein positiver Befund, wäre mir willkommen gewesen. Ich verharrte in dieser Position, ohne zu wissen, was ich noch tun könnte, bis ein Wanderer seine Hand auf meine Schulter legte, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ich fuhr ihn an.
    – Sie wandern, hier?
    – Eine wunderbare Gegend, nicht wahr, und was für ein schöner Spätsommertag.
    – Sehen Sie das nicht?
    – Na ja, ein bißchen wenig Schnee dieses Jahr.
    – Dieser Gletscher ist tot, und Sie schlendern fröhlich vorbei. Verschwinden Sie, hauen Sie ab. Sie ekeln mich an.
    Der Mann würdigte mich keines weiteren Blickes, er setzte seine Wanderung fort. Das war kein Massenverlust, das war eine Massenvernichtung. Es wäre unsinnig gewesen, in diesem September die Schmelze zu berechnen, die Sommerbilanz zu erstellen. Es gab an diesem Berg nichts mehr zu messen. Irgendwann richtete ich mich wieder auf, stieg hangaufwärts, ohne Ziel. Im

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