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EisTau

EisTau

Titel: EisTau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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Kammer, im Bauch meines frostigen Wals, entledigte sich Gott jedes überflüssigen Wortes.
     
     
    Jeremy ist klein, aber er trägt eine Brille, die dafür sorgt, daß man ihn überall zu jeder Tageszeit wiedererkennt, eine aus irgendeinem kalifornischen Comic entwendete Brille, durch die jede Polarexpedition zu einer Heldengeschichte verfärbt wird, vor allem jene von Shackleton, den Jeremy verehrt wie keinen anderen, er kann seinen Vortrag über Shackleton sechsmal pro Saison halten, und jedesmal klingt er frischer und origineller als zuvor. Wer unter den Lektoren gerade nicht im Einsatz ist, steht neben der Tür des Auditoriums und hört sich wenigstens einige Minuten lang an, wie Jeremy Sir Ernest Shackleton zum prometheischen Heroen erhöht (er würde ihn in die Ahnengalerie der Propheten aufnehmen, wäre er auf der Suche nach spirituellen Vorbildern). Jeremy hat beobachtet, daß ich mir Notizenmache, ich verstecke mein Notizbuch mit dem schweren Einband nicht, weil es unmöglich wäre, an Bord Geheimnisse zu hüten, wer das glaubt, wird eines Tages eines Besseren belehrt, an Bord wird alles sichtbar und alles Gesichtete hörbar. Jeremy hat mir überraschend ein Blatt Papier unter den Platzteller gelegt, handschriftlich beschrieben, das ich nach den Vorspeisen und noch vor dem Dessert lese: »Da Du auch zu schreiben begonnen hast, solltest Du Dir vor Augen halten, daß der amerikanische Autor Nathaniel Hawthorne die Expedition von Leutnant Charles Wilkes in die Antarktis nicht begleiten durfte, weil ›der Stil, in dem dieser Gentleman schreibt, zu wortreich und verziert ist, um einen echten und vernünftigen Eindruck der Atmosphäre auf der Expedition zu vermitteln. Darüber hinaus wird ein Herr, der so talentiert und distinguiert ist wie der genannte Mr. Hawthorne, niemals die nationale und militärische Bedeutung irgendwelcher Entdeckungen erfassen.‹ So argumentierte ein damaliger amerikanischer Kongreßabgeordneter. Ich habe diese Kostbarkeit entlang meiner Lektüren aufgesammelt. Fühle Dich privilegiert, daß Dir, der Du die nationale und militärische Bedeutung der Antarktis ebenfalls nicht begreifen willst, gewährt wird, was Deinem Kollegen versagt wurde, vermeide Wortreichtum und Zier und gedenke der Entbehrungen Shackletons.« Als ich aufblickte, merkte ich, daß Jeremy wieder seinen Camcorder auf mich gerichtet hatte, und ich hielt das beschriebene Blatt vor meiner Brust, als sei ich ein Entführungsopfer, und sprach bedächtig den just erfundenen Shackleton-Schwur, das nackte Wort zu ehren. Jeremy grinste und schwenkte von mir weg durch das Glas aufs Meer. Man hätte ihn auf jede Expedition mitgenommen, weil er gute Launeverbreitet, selbst wenn er nachdenklich wird. Das ist ein seltenes Talent. Auf Shackleton mußte er sich beziehen, mit Shackleton identifizieren wir uns alle (abgesehen von El Albatros, der es nicht verwinden kann, daß Shackleton plante, Albatrosküken an Feinschmecker in London und New York zu verkaufen, in der Not hatten sie allzufein geschmeckt), er ist der gute Mensch von Antarktika, seine vom Eis eingeschlossene ENDURANCE abgebildet im Aufzug, sein Porträt an der Wand vor dem Eingang zum Restaurant, er könnte Mitglied unserer Gruppe sein, er wäre gut mit uns ausgekommen, er mißtraute strengen Hierarchien, setzte anstelle von steifer Subordination auf Gemeinschaftlichkeit. Vor allem war er der einzige Polarforscher, der in den tiefsten Süden reiste, um dort zu sterben. Genausowenig wie einen Alltag unter gemäßigten Temperaturen konnte er sich ein Grab in aufgetautem Boden vorstellen.
     
    Der Kapitän gibt Vollgas, wir haben in Grytviken etwas Zeit gelassen, die HANSEN furcht durch die Wogen, zu allen Seiten nichts, als wären wir die ersten Schiffer, die dieses Meer durchziehen. Keine drei Stunden von Südgeorgien entfernt sichten wir Wale, sie sind ganz nahe. Beate ist so erregt, wenn die Buckelwale untertauchen, hält sie die Luft an und atmet mit ihnen ein, wenn sie wieder zur Wasseroberfläche steigen. Ihre Begeisterung bleibt unberührt von den Dutzenden Kameras um sie herum, die wie Peitschenhiebe klicken, hast du sie gesehen, ruft sie Jeremy zu, der sich einen Weg durch die dichte Späherschaft bahnt, und Jeremy ruft zurück, oh yes, oh yes, and we’re clicking into place.

6.
    Dem werde ich einheizen, am schönen Rhein liegt Basel, was für eine irrsinnige Choreographie, und Kairo liegt am Nil. Insgesamt handelt es sich um 220 Passagiere, Engländer,

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