EisTau
Abgeschiedenheit? Ich hatte vergessen, wie Vater ausgerichtet ist. Seine Sehnsucht findet hinter dem Horizont kein Atlantis, am Ausgang der Wüste kein Timbuktu, jenseits der Berge kein Shangri-La, sondern nur die Ruhe auf einer einsamen Wanderschaft. Ich könnte Vater nicht erklären, was mich unruhig stimmt, wenn ich längere Zeit die Website der ESA nicht mehr aufgerufen habe (über die WLAN-Verbindung auf Deck 4), um das Abbröckeln des antarktischen Schelfeises abzufragen. Ich weiß, es schreitet voran, wieso muß ich es mir von Zeit zu Zeit bestätigen lassen? King George Island habe ich meinem Vater bislang verschwiegen, seine Vorstellung von eisiger Unberührtheit wird auf ihr mit Moonboots und Militärstiefeln getreten. Auch als Expeditionsleiter kann ichnicht verhindern, daß wir hier ankern, wir haben keine anderen Anlandungsoptionen, nachdem wir Elephant Island wegen Windgeschwindigkeiten von 25 Meter die Sekunde nicht haben anlaufen können. King George Island besteht zu neunzig Prozent aus Eis, zu zehn Prozent aus Forschungsstationen und Pinguinkolonien, so müßte ich die Insel Vater beschreiben, die Stationen wenige Jahrzehnte alt, die Kolonien seit 30000 Jahren vorhanden. Als Speerspitze menschlicher Besiedlung beherbergt die Insel das einzige Hotel der Antarktis, »Estrella Polar« (das Hotel ist nicht mehr in Betrieb, und den Polarstern wird man in diesen Breitengraden niemals sehen können), und einen chilenischen Luftwaffenstützpunkt, den Ungeduldige anfliegen können, um sich an der Drake-Passage vorbeizumogeln. Die Insel ist mit Stationen übersät wie mit Pusteln. Jeder Staat, der die Zukunft der Antarktis mitbestimmen will, würde ich Vater erklären, muß eine permanent bemannte Basis unterhalten, und nirgendwo läßt sich dies so preisgünstig verwirklichen wie auf King George Island. Rußland, China, Korea, Polen, Brasilien, Uruguay, Argentinien und Deutschland spielen um den Antarktispokal mit. Die Stationen liegen dicht nebeneinander, das ist ganz und gar nicht im Sinne der Wissenschaft, es nährt den Verdacht, hier wird nicht geforscht, sondern Rommé gespielt, in Erwartung des Tages, da man nach Öl statt nur nach Eis bohren darf (bahnbrechende Forschungen finden gegenwärtig tief im Meer und weit im Inland statt, die Teams sind den Sommer über unterwegs, übernachten in Zelten). Manchmal besuchen wir die chilenische Eduardo-Frei-Station. Der Anblick einer Bank, einer Post, eines Ladens, einer Schule, eines Krankenhauses in behelfsmäßiger Gestalt entzückt diePassagiere, ebenso das Dorf am Hang im neckischen Rancho-Stil, fast ein normales Dorf samt Frauen und Kindern, das seine eigenen Briefmarken herausgibt, die Flagge hißt und chilenische Frischbürger in die Welt setzt, die mit jedem Säuglingsschrei einen nationalen Anspruch auf die antarktische Halbinsel erheben (dieses Detail, wie aus einer Posse von Weiß Ferdl, würde Vater gefallen). Wie konnten es die Sowjets und die Amis versäumen, eine Hochschwangere ins All zu schießen, um mit der Geburt des ersten außerhemisphärischen Babys einen legitimen Anspruch auf das Sonnensystem, die Galaxis, den Weltraum zu begründen? Die russische Station Bellinghausen meiden wir, das wäre Vater noch zu erläutern, wegen der Ölfässer, der Wracks und des Eisenschrotts am Strand, auf dem des Menschen wahres Vermächtnis sichtbar wird: rostiger Müll. Aber es gibt auch eine Zügelpinguinkolonie, in deren Nähe wir landen, das Geschnatter der schwarzweiß uniformierten Tiere mischt sich mit dem Geschnatter der rotuniformierten Menschen zu einer hochtönigen Paraphonie. Außerirdische landen an, ausgerüstet mit Neugier, bar einer gemeinsamen Sprache. Die Zügelpinguine könnten sich nicht einmal mit den Eselspinguinen verständigen, die sich in ihre Kolonie verirrt hätten, erklärt mir El Albatros in einer der kurzen Pausen zwischen der Abfahrt eines Zodiacs und der Ankunft des nächsten, es sei nicht einmal gesichert, ob sie diese überhaupt wahrnähmen. Die Passagiere kosten jede Minute aus, die sie unter Pinguinen verbringen können, wir müssen sie lautstark und dringlich zur Rückkehr auffordern, ich stehe mit einem Bein im Wasser, neben einem metallenen Hocker, der es den Ankommenden erlaubt, meinen Arm im Seemannsgriff zu packenund über eine Stufe halbwegs trocken festen Boden zu erreichen, während ich Mantras der Höflichkeit murmele, auch wenn mir nach zwei Stunden im kalten Wasser eher danach ist, die Antarktistouristen mit
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