EisTau
zurück. Die Lektoren am Tisch werfen mir besorgte Blicke zu, keiner von ihnen macht mir einen Vorwurf, obwohl ein jeder von ihnen sich in einer ähnlichen Situation besser im Griff gehabt hätte; nachsichtig stellen sie sich hinter meine Unbeherrschtheit. Es könnte sein, daß sie es bedauern würden, mich missen zu müssen. Beate deutet an, daß wir die krumme Welt nicht geradebiegen können; Jeremy erzählt die Geschichte, wie er in den Rocky Mountains von einem Militärlastwagen von der Fahrbahn gedrängt wurde. Er ist gerade dabei, seinen klapprigen Pick-up expressiv mit Gesten und Soundtrack gegen eine Fichte zu fahren, als ich aufstehe, kurz nicke und den Speisesaal verlasse, jeden Seitenblick vermeidend. Es ist nichts in der Kabine, das meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich liege auf dem Bett und starre auf den Feuermelder, als Paulina hereinstürzt, ein atemloses Sorgenbündel.
– Was ist passiert?
– Du hast es schon gehört?
– Du hast dich geprügelt, mit einem der Passagiere?
– Mit einem Soldaten. Es war kein Prügeln.
– Soldat, was für ein Soldat?
– Ein chilenischer.
– Wieso das? Was hat dir der Soldat getan?
– Er rauchte, inmitten der Pinguine.
– Was erwartest du von einem Soldaten?
– Daß er nicht raucht.
– Es sind nicht die Schlausten, die zur Armee gehen.
– Es geht nicht um Intelligenz.
– Worum dann?
– Um Achtung.
– Und dafür eine Prügelei?
– Es war keine Prügelei. Er hat nicht aufgehört zu rauchen, als ich es ihm gesagt habe.
– Er hat nicht auf dich gehört, das ist es, alle müssen auf dich hören.
– Nicht auf mich, auf den gesunden Menschenverstand.
– Und jetzt?
– Ich weiß es nicht.
– Du tust so etwas, und dann weißt du nicht, wie es weitergeht?
– So ist es.
– Du bist dumm.
– Einverstanden.
– You are risking us for nothing.
Ich würde mich verteidigen, wenn mir Wörter einfielen, die dem Zorn des Augenblicks, als ich hinter dem rauchenden Soldaten herrannte, als ich seinem Achselzucken gegenüberstand, gerecht würden. Alles was mir durch den Kopf schießt, ist nachgetragen, Schnittblumen auf einem frischen Grab. Paulina sitzt auf dem Bettgegenüber. Mein Schweigen gibt ihr recht. Mit meiner Hand auf ihrer Schulter ziehe ich sie zu mir, ihre Haare berühren meine Brust. Ihr Gesicht vergräbt sich in mein Hemd. Ich spüre, wie der Stoff naß wird. Es wird der Tag kommen, da ich sie unglücklich machen werde, ohne sie trösten zu können. Ein erster Kuß, eine Gedankenpause, ein zweiter Kuß. Wir ziehen das Nötigste aus. Ich dringe in sie ein, erneut und erneut, mit pochender Vergeblichkeit. Wir schweigen, peinlich berührt, weil wir unsere Körper mißbrauchen. Ungeduld braust in mir auf, ich will es zu Ende bringen, so schnell wie möglich. Ich höre die Stimme von Emma, sie ruft meinen Namen aus, über die PA-Anlage. Es wird nach mir verlangt. Irgend jemand will eine dringende Frage an mich richten. Ich muß auch zur Arbeit zurück, sagt Paulina. Wir sind beide eingepfercht. Ich komme mit verkniffenen Lippen.
Vor einigen Jahren, zwei Sommer vor der Katastrophe, reisten Helene und ich für ein verlängertes Wochenende nach Lissabon, zu einem nochmaligen Versuch, unsere Ehe durch Stadtwanderungen, späte Abendessen im schummrigen Licht und gegenseitiges Auftragen von Sonnencreme zu retten. Wir wandelten die Boulevards entlang und stiegen die steilen Gassen hinauf, wir unternahmen alles, was Reisende in Lissabon beglücken sollte, wagten uns in Seitengassen, die in keinem Reiseführer verzeichnet sind, verspeisten warme Pastéis de Belém in der Pastelaria gleichen Namens (touristisch, sehr touristisch, aber als Tourist schätze ich das, was für den Touristen inszeniert wird), tranken Alentejo-Wein, bewunderten Azulejos, wir bestiegen sogar einenKatamaran, um Delphine in der Tejo-Bucht zu beobachten. Egal, mit was wir in Berührung kamen, nichts bewegte uns beide zugleich. Wir hätten tagelang in den Souvenirläden verbleiben können, wir hätten kein Andenken gefunden, das uns beiden gleichermaßen gefiel. Wir stolperten in eine Kirche hinein, die dem Reiseführer drei Zeilen wert war, bereit, nach einem flüchtigen Blick durch das Schiff und über die Decke wieder hinauszutreten, weiterzugehen, um sich ja nicht an einem Ort aufzuhalten, der nur uns beide enthielt. Doch das Innere der Kirche bannte mich, ihre Unvollständigkeit, die Spuren der Zerstörung
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