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EisTau

EisTau

Titel: EisTau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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no, belehrte mich der Gemüsehändler, der für einen Hauch mehr Geschmack einen Batzen mehr Geld verlangt. Unheimlich, wie sehr die Welt in Solln noch in Ordnung ist, wie entschieden die Seligen ihre Idylle verteidigen mit allen Mitteln der Blindheit. Der Nachbar belästigte mich mit seiner Krankheitsgeschichte, als schuldeten wir uns reziprok Mitgefühl. Ähnliche Schmerzen ergeben noch lange kein gemeinsames Leid. Kaum hatte ich dies geäußert, war ich von seiner Anhänglichkeit befreit. Welch glückliche Fügung, daß manch ein Nervtöter schnell beleidigt ist. Leider blieb seine Selbstentblößung kein Einzelfall, auf jedem Kanal, auf jeder Frequenz wurde das eigene Siechtum beweihräuchert, als wäre eine schwereKrankheit die bemerkenswerteste individuelle Leistung unserer Zeit. Du hast Krebs, wie außergewöhnlich, Prostatakrebs oder Brustkrebs oder Lungenkrebs oder Leberkrebs, du hast Geschwüre, wie exzeptionell, dein Körper vergeht, ach was, er wird von innen zerfressen, wie erstaunlich, die hellsten Strände sind mit Melanomen übersät, diese erbärmliche Obsession von der eigenen winzigen Existenz, Hundsgrippe miserablige, bloody fucking hell . Hey, das verstehe ich, das da, Paulina stupst mir vergnügt ins Wort, German is like English, no? Wenn sie mir (wie gerade eben) über die Schulter schaut, zeigt sie sich entzückt über jede vertraute Wendung, auch wenn diese ein plumper Fluch ist. Mir fallen die englischen Einsprengsel kaum mehr auf, sie schleichen sich ein, den Umständen geschuldet ( communication on board ), untereinander unterhalten wir uns fast nur auf englisch, selten sind deutsche Muttersprachler unter sich, mein Deutsch verenglischt, step by step . Damit es mir nicht so ergeht wie dem Expeditionsleiter aus meiner ersten Saison, der Deutsch und Englisch zu einem Kauderwelsch verwurstelte, um mich der kristallreinen Sprache zu vergewissern, murmele ich wie zur Meditation auf dem Außendeck Gedichte aus Jugendtagen, Gedichte, die uns Studienrat Pradel im Frühlings-Gymnasium auftrug, beiläufig lernten wir sie auswendig (ich bereits auf dem Heimweg von der Schule), ohne zu ahnen, daß sie uns nie wieder verlassen würden. Mir sind mehr Gedichte gegenwärtig als Liebesnächte. »Das Gestern, das mich flieht, kann ich nicht halten, / Das Heute drückt mich wie ein Frauenschuh. / Die kleinen Wandervögel schon entfalten / Die Flügel herbstlich ihrer Heimat zu. / Ich steige auf den Turm, die Arme weit zu dehnen, / Und fülle meinen Becher nur mit Tränen.«Übersetze es mir, bittet mich Paulina, wie so oft, wenn sie auf eine von mir dichtbeschriebene Seite blickt. Wenn ich es ins Englische übersetze, wird es wenig Sinn ergeben, sage ich und schiebe den Stuhl zurück, wenn ich es hingegen ins Paulinische übertrage, werden wir es beide besser verstehen. Meine Hände haben ihre Handgelenke gepackt, meine Lippen streichen über ihren Hals, sie weicht zurück, sie weicht ins Bett zurück. Jedes Wort hat zwei mögliche Bedeutungen, murmele ich, eine linkische Bedeutung, mein Mund saugt sich fest, und eine rechthaberische Bedeutung, mein Mund wandert von der einen Brust über die Kuhle dazwischen zur anderen, meine Zungenspitze klopft an, ich würde gerne in dich eindringen, ohne daß du es merkst, du sagst die unmöglichsten Sachen, hier ist es wieder, dieses Lachen, das Liebenswerteste am Homo sapiens, und ich sage: Ja, mehr als »Ja« wäre geschwätzig, ihr Lachen fällt ins Stöhnen, wir sinken, Luftblasen steigen zur Wasseroberfläche hinauf, wir sinken, von den Farben des Alltags ist keine mehr sichtbar, wir verweilen in der Tiefe, als könnten wir ohne Sorge die Luft anhalten. Aufgetaucht, lausche ich mit einem Ohr den neuesten Gerüchten, die sie aufwirbeln läßt wie ein Stoßwind zusammengefegtes, trockenes Laub (es ist eine Ohrenweide, wenn sie und Esmeralda am Morgen die Kisten entleeren, um die Kühlschränke zu füllen. Es rattern ihre Münder nähmaschinengleich, aufgeschnappte Fetzen werden im Nu zu regenbogenfarbigen Umwürfen, während die Flaschen klirrend in die Waagerechte gelegt, klirrend aufgestapelt werden). Zu Beginn unserer Beziehung hatte ich Sorge, die Liaison mit mir, einem alten weißen Mann, könnte sie die Wertschätzung ihrer Landsleute kosten, aber das Gegenteiltrat ein, auf Kreuzfahrtschiffen im tiefen Süden gelte ich offenkundig als gute Partie. Ich ziehe die Gardine zur Seite. Dem Expeditionsleiter gebührt Ausblick, Paulina war fensterlosen Schlaf gewohnt

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