EisTau
aber ich könnte ein Leben ohne die Aufenthalte im Eis nicht ertragen, und sie sieht mich so verständnisvoll an, daß ich sie in meine Wärmeidiotie-Theorie einweihe, wonach die Menschen an einem Wahn leiden, den mit umgekehrten Vorzeichen Erfrierende erleben, die sich einbilden, ihnen sei heiß, weswegen sie sich ausziehen, obwohl ihr Körper bereits stark unterkühlt ist, wohingegen wir immer mehr heizen, auch wenn es schon unerträglich heiß ist. Dieses Phänomen, Kälteidiotie genannt, tritt ein, wenn die Körperkerntemperatur unter 32 Grad Celsius sinkt. Bei was für einer Temperatur die Wärmeidiotie beginnt, das ist mir nicht bekannt, wissenschaftlich ist bislang nur gesichert, daß der Erfrierende im Stadium der Kälteidiotie nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu retten. Mary wirkt konsterniert, sie meidet auf einmal meinen Blick, läßt keine weiteren Fragen folgen – hält sie meine Theorie für dämlich oder selbstgefällig? –, sie starrt zur Seite, oder habe ich sie vor den Kopf gestoßen? So grob, wie du deine Wahrheiten hinausposaunst, fauchte mich Helene einmal im Streit an, klingen sie wie Beleidigungen. Mary reagiert nicht auf mein besänftigendes Plaudern, ihr Blick ist paralysiert, gerichtet auf einen Punkt am anderen Ende des Raums. Ihr Gesicht leblos, an mir kann es nicht liegen, schwer vorstellbar, daß sie der Anblick des kleinen, dicklichen Mannes, der, gemütlich in einem der Sessel ausgestreckt, ein Buch befingert und verträumt hinausblickt, derart in Beschlag genommen haben könnte. Mary, was ist los? Eine fleckige Röte hat sich auf ihrem blassen Gesicht ausgebreitet. Es dauert, bis sie mir antwortet. Dieser Mann dort, was tut er hier, was will er hier? Bevor ich eine weitere Frage stellen kann, ist sieaufgestanden und davongeeilt. Das Taschenbuch und das Tonband bleiben in meiner Obhut zurück.
Meine Trauer verkrustete zu Wut. Das Semester hatte noch nicht angefangen, es war ein leichtes, niemandem zu begegnen. Helene fiel jeder Einladung um den Hals und blieb so lange außer Haus, wie sie es nur einrichten konnte, unermüdlich vertrat sie uns beide, selbst zum runden Geburtstag ihrer Mutter fuhr sie ohne mich, ich weiß nicht, ob sie ein gemeinsames Geschenk vorflunkerte. Wie lange mag es wohl gedauert haben, bis die Bekannten vergaßen, daß Helene vor kurzem noch zu zweit gewesen war? Wer an Beständigkeit glaubt, müßte an der Rasanz verzweifeln, mit der sich Individuen zu Paaren fügen und Pärchen zu Singles zerfallen. Beim Kennenlernen ist der andere eine uneinnehmbare Festung, drei Rendezvous weiter, bei entsprechendem Begehr, ein wenig Händchenhalten später, nach einigen Küssen und etwas mittelmäßigem Sex, den beide Seiten sich schönreden, werden alle Hängebrücken runtergelassen. Die Lüge der ewigen Liebe stimmt uns ein auf die Lüge des ewigen Lebens. Später fällt es einem schwer zu erklären, what the fuss was all about . Ich habe in den ersten einsamen Wochen einen Selbstversuch unternommen, die Gardinen zugezogen, das Licht gedämpft, mich auf den Fußboden gesetzt und mir vorgenommen, erst wieder aufzustehen, wenn ich mir ein halbes Dutzend sexueller Beglückungen vergegenwärtigt habe. Genau sollten sie sein, mehr als eine verblaßte Erinnerung daran, wie eine Brise über unsere Körper glitt oder ihre Haut sich wie Samt anfühlte. Es ist mir auch nach Stunden biographischer Ausgrabungen nicht gelungen.Statt dessen reproduzierte mein Hirn sportive Leistungen, so eitel, wie ich sie abgespeichert hatte: dreimal in einer Nacht (in der Skihütte als Student), zwei Stunden unentwegt dabei (um die Wette zu gewinnen, als Helene behauptete, ich hätte nicht genug Ausdauer). Irgendwann mußte ich aufstehen und einkaufen gehen. Jeder Bekannte, der mir über den Weg lief, erkundigte sich mit aufdringlicher Anteilnahme nach meiner Rekonvaleszenz. Ich enttäuschte sie alle. Statt sie an der erbaulichen Erfolgsgeschichte teilhaben zu lassen, wie ich dem Tod von der Schippe gesprungen war, berichtete ich von einem vernichteten Gletscher, das irritierte die guten Leut, beim Weggehen schüttelten sie den Kopf, sie fällten ihr abschätziges Urteil über mich, noch ehe sie in ihr Fahrzeug stiegen, über schnurgerade Straßen in ihre fernbediente Garage fuhren und von dort mit dem leise gleitenden Aufzug in ihre Tapetengruft. Sie hielten mich für undankbar, Gott gegenüber oder dem Schicksal oder dem Gesundheitssystem. Eana gehts scho wieda guad, Sie lebn ja
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