EisTau
du dich je wieder frei bewegen wirst, ob du von der Welt mehr sehen wirst als die angestrahlten Meßgeräte, ob der Tunnel überhaupt einen Ausgang hat.
Ich hob das Mikrophon auf und drückte auf den roten Knopf. Eingeschaltete Mikrophone führen meist zu Peinlichkeiten.
– Man würde verzweifeln, wären da nicht die Bücher. Überrascht? So banal, im Tunnel Bücher. Amundsen hat dreitausend Bücher mitgenommen, haben Sie das gewußt?
– Sollen wir uns einen Tee holen?
In einem endlos scheinenden Tunnel auf die rettende Kraft der Phantasie zu vertrauen, das leuchtete mir ein. Ich begleitete den Leptosomen zum Kaffeeautomaten, der auch heißes Wasser spendiert. Er sprach weiter, während er einen Teebeutel umständlich auspackte.
– Unsere Wissenschaft ist ein modernes Orakel, das habe ich früh geahnt, aber erst im Tunnel begriffen,
er kippte mehrere Löffel Zucker in seinen Pfefferminztee,
– früher wurde Erkenntnis mit Hilfe eines Mediums gewonnen. Haben wir nicht gedacht, wir seien weiter? Wir waren überzeugt, unsere Zukunft würde sich am Ende der Messungen offenbaren. Wahrsagerei? Das war für uns suspekte Ekstase, wir würden nüchterne Beweise vorlegen,
der Pole klopfte mit dem Löffel an den Rand der Tasse,
– mittels Präzisionsarbeit gewonnene Belege, das sind die Zeichen der Zeit, die Blaupausen für zukünftiges Handeln. Um jemanden zu überzeugen, müßten wirnur die entsprechenden Daten vorlegen. Ist das nicht so?
Mit der Tasse in der Hand drehte er sich um, blickte zur Treppe, blickte hinauf und blickte hinab, blieb stehen, hob die Tasse mit beiden Händen zu seinen Lippen und schlürfte vom Tee.
– Wer wurde denn in Delphi verehrt? Die Göttin Gaia. Ihre Dienerinnen versanken in Trance, um Zukunft zu gewinnen, in äthyleninduzierte Trance. Und wir? Wir produzieren Äthylen in Unmengen, Äthylen ist überall, in unserer Kleidung, in den Gegenständen des täglichen Bedarfs, Äthylen ist in unseren Körpern. Wir sind konsumatorisch derart narkotisiert, das Hellseherische ist uns verlorengegangen.
Der Überwinterer schlürfte ein weiteres Mal. Er stand neben mir, er sprach mir aus dem Herzen, aber ein Gespräch mit ihm schien nicht möglich.
– Wen sollen wir befragen? Haben wir genug darüber nachgedacht, wen wir befragen sollen? Eine höhere Instanz, das ist klar, aber welche? Die höhere Instanz namens Natur, den Organismus namens Gaia oder etwa doch Gott? Sind unsere Fragen präziser geworden? Vielleicht. Führen sie zu neuen Antworten? Das nehmen wir an. Und waren wir nicht überzeugt, daß wir besser handeln könnten, wenn wir mehr entschlüsselt hätten? Lächerlich. Und Sie, was tun Sie auf diesem Schiff?
Mit einiger Verzögerung begriff ich, daß er mich meinte, er hatte sich mir nicht zugewandt, seine Stimme hatte sich nicht verändert, die Worte am Ende jedes Satzes wurden weiterhin nachgezogen wie ein lahmes Bein.
– Haben wir uns geirrt? Ein klein wenig geirrt? Sehr geirrt? Falsch, wiederum falsch. Wir lagen gänzlich daneben, wir haben das falsche Spiel gespielt, wir hieltenProjektionen in der Hand, dabei wären Prophezeiungen Trumpf gewesen. Die Projektionen haben sich als irrelevant erwiesen, so irrelevant wie die Wettervorhersage für letzte Woche. Geben Sie es zu, Sie haben es nicht für möglich gehalten, daß man Ihre Warnungen in die Wendewinde schlagen würde.
– Woher wissen Sie das?
– Sie haben es mir selbst gesagt.
– Wir haben uns noch nie zuvor gesehen.
– Sie haben es mir ausführlich erzählt.
– Wo war das?
– Auf irgendeinem Kongreß.
– Ich habe keine Erinnerung daran.
– Sie haben sich also von der Wissenschaft abgewandt? Sie haben aufgegeben?
– Im Gegenteil, ich habe nur vor, meine nächste Warnung anders vorzutragen.
Wir sind eingeschlossen von Gleichförmigkeit, wir können einzig erkennen, daß uns die Natur mit blinden Augen anstarrt. Das Wasser wirkt ölig, unweit des Schiffes geht seine undurchdringliche Oberfläche in ein Trenntuch über, das zwischen zwei metallenen Kimmungen gespannt scheint. Alle Kameras sind gesenkt worden, in der Lounge ist es stiller als sonst. Paulina und ich tauschen über die Vitrine mit dem Marmorkuchen hinweg Blicke aus. Als wir uns vereinigen, bitte ich die Lust verzweifelt um einen Gunstbeweis. Wir pendeln uns aus; wir schaukeln auf einem falschen Versprechen.
8.
Das können Sie so nicht sagen, die Nacht ist heiß am Kongo, wieso haben Sie bei
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