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EisTau

EisTau

Titel: EisTau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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weckten in mir ein unverhofftes Gefühl der Zuneigung, zum ersten Mal glaubte ich mich im Areal des Wahrhaftigen und nicht in einem Tempel menschlichen Größenwahns. An den Säulen waren die Brandspuren noch sichtbar, ein blutorangefarbenes Gewölbe dehnte sich über mir aus wie der weite Himmel über einem Schlachtfeld. In dieser Igreja war die Erlösung glaubwürdig eingerußt. Die verwelkenden Blumen, die flackernden Kerzen wirkten wie letzte eitle Hoffnungen. Erst nach einigen Minuten der Einkehr wurde mir bewußt, daß aus den schmalen, in die Wand eingelassenen Lautsprechern ein kissensanfter Gesang ertönte, von Kinderstimmen, wie von der anderen Seite einer Mauer, die nie überwunden werden kann. In einer kleinen Apsis sah ich die berührendste Muttergottes, die ich je erblickt hatte, ausgesetzt in einer gähnend leeren Nische. Sie strahlte eine Verunsicherung aus, als fürchtete sie, den angetragenen Ansprüchen nicht zu genügen. Sie war eine Vertriebene, eine Verletzte. Ich fühlte ihren Schmerz. Nicht nur, daß ihr Sohn zu Tode gefoltert wurde, sondern daß diese Qual verewigt worden ist. Ich blieb lange vor ihr stehen. Washat dir denn jetzt an dieser kaputten Kirche gefallen? fragte vor dem Portal eine grantige Helene. Das war die Igreja de Gaia, sagte ich, der Ort, den man aufsucht, den menschlichen Hochmut abzuwerfen.
     
     
    Dan Quentin ist auf der HANSEN. Er bewegt sich nie ohne Entourage, weswegen man seine Anwesenheit zwar nicht erkennen, aber an einem dichten Schwarm Schmeißfliegen erahnen kann. Manchmal sieht man seinen Wuschelkopf vorbeischweben. Sein Manager hat mir eine Audienz bei ihm in Aussicht gestellt. Er hat das Wort »Audienz« nicht benutzt, aber Tonfall und Wortwahl legten eine Ehrung nahe. Die Passagiere sind aufgekratzt, es ist eine Aufgeregtheit an Bord zu spüren, seitdem ich der versammelten Gästeschaft, aufgeteilt gemäß Sprachpräferenz, auf englisch und dann auf deutsch die historische Chance übermittelte, aktiver Bestandteil eines Kunstwerks zu werden. Ich skizzierte die Sicherheitsübung, die wir zu diesem Zweck durchführen würden, der Manager schilderte den künstlerischen Plan. Zu meinem Erstaunen fühlten sich die Passagiere von der Losung »Die Kunst braucht Sie« keineswegs belästigt, sondern eher gebauchpinselt. Sie entdeckten ihre engagierte Seele. Wenn ich dazu aufgerufen werde, bin ich bereit, etwas für die Umwelt zu tun, gab ein Unternehmer aus St. Louis den Ton an. Der junge Mann hat Phantasie, genau das brauchen wir, nicht immer dieses Demonstrieren, diese zersetzenden Proteste, das bringt eh nichts, konstatierte eine ältere Dame. Ein signiertes Foto muß dabei schon rausschauen, forderte ein pensionierter Oberschuldirektor aus Paderborn. Natürlich erhalten Sie alle ein signiertes Exemplar,beschwichtigte der Manager, nicht nur das, Sie werden zudem namentlich genannt, ein jeder von Ihnen, auf unserer Website. Und sollten Sie einen Print in limitierter Auflage als Geschenk erwerben wollen – was wäre das für ein Geschenk, nicht wahr, für die Daheimgebliebenen –, erhalten Sie natürlich Mitwirkendenrabatt, der ist bei uns großzügig bemessen. In plaudernd sich verästelnden Grüppchen verließen die Passagiere den Raum, um sich in die ausgelegten Teilnehmerlisten einzutragen, bis nur noch einer übrigblieb, ein hagerer, unrasierter Mann mit einer schwarzen Wollmütze auf dem Kopf, auch ein Neuankömmling, ein Überwinterer von der polnischen Station Arctowski, den wir zusammen mit Dan Quentin an Bord genommen hatten, um ihn nach fast zwölf Monaten auf King George Island nach Hause zu bringen. Er saß in der vorletzten Reihe, einen Stuhl vom Gang entfernt, seine Hände auf die Oberschenkel gelegt, die Finger breit gespreizt, und er preßte ein Lächeln auf seine Lippen. Er fixierte mich mit seinem Blick. Offensichtlich erwartete er etwas von mir. Ich setzte mich zu ihm, das Mikrophon noch in der Hand.
    – Über das Überwintern soll ich reden.
    – Sie möchten einen Vortrag halten?
    – Alle wollen wissen, wie es ist, in der Antarktis zu überwintern.
    – Wie in einem Tunnel, so haben es manche beschrieben, wie in einem Tunnel gefangen zu sein, dessen Länge einem bekannt ist?
    Er riß mir das Mikrophon aus der Hand und brüllte hinein:
    – Das ist falsch!
    und ließ das Mikrophon zu Boden fallen.
    – Du kannst dir die Länge des Tunnels nicht vorstellen. Mit jedem Tag wachsen deine Zweifel, ob die Sonne wieder aufgehen wird, ob

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