Eistod
tastete seinen Hals ab. Nach einer Weile nickte er Jagmetti zu. Die blauen Augen des Professors starrten an der blutverschmierten Eckkante des Couchtisches vorbei in die Ewigkeit.
»Warum, Christoph?« Der Kommissar stand auf. »Sag mir wenigstens, warum.«
Jagmetti flüsterte Eschenbach etwas ins Ohr, deutete mit dem Kinn zum Telefon und meinte: »Soll ich das übernehmen?«
»Ja, mach du das, Claudio.«
Der Kommissar sah auf den hockenden Burri hinunter. Ohne auf seine Frage einzugehen, starrte der Arzt durch seine Beine hindurch auf den Boden.
»Ich wollte Sie gerade anrufen.« Meiendörfer räusperte sich. Für einen Beamten des Strategischen Nachrichtendienstes wirkte er seltsam hilflos und zerstreut.
Plötzlich flog es Eschenbach zu: die Diabetes-Tabelle in Burris Küche und der Insulin-Pen. Der Morgenmantel, den der Arzt ihm zur Verfügung gestellt hatte, und das Rasierzeug im Gästebad. »Sie sind sein Freund, nicht wahr?«
Tobias Meiendörfer nickte. »Ja, wir sind ein Paar. Schon lange … ich habe Christoph kennengelernt, weil er sich um meine Mutter gekümmert hat. Es ist alles meine Schuld, Christoph hat es meinetwegen getan. Er war es übrigens auch, mit dem ich telefoniert habe, damals im Central … Sie hatten mich danach gefragt, erinnern Sie sich? Klara Sacher hat mit alldem nichts zu tun … Christoph ist ein wundervoller Mensch.« Der Blonde fing hemmungslos zu heulen an.
»Hör auf, Tobias«, kam es von der Couch. Burri hob den Kopf, stützte die Hände auf die Knie und blieb eine Weile so sitzen. Dann erhob er sich: »Winter war ein Zauderer … ein Feigling und ein Zauderer.« Der Arzt kam langsam auf den Kommissar zu. »Weißt du«, sagte er zu Eschenbach. »Dass es überhaupt Medikamente gegen die Schwermut gibt, verdankt die Medizin ein paar glücklichen Zufällen. Iproniazid etwa, eines der ersten Antidepressiva. Es wurde Ende der Fünfzigerjahre zuerst gegen Tuberkulose eingesetzt, bis den Ärzten auffiel, dass Lungenkranke nach der Einnahme regelmäßig euphorisch wurden. Imipramin , ein anderes frühes Antidepressivum, wurde aus Schizophrenie-Studien übernommen, nachdem Patienten dort energiegeladen reagierten. Es waren die Ärzte … nicht die Forscher.«
Eschenbach fragte sich, weshalb er die Bitterkeit in Burris Gesicht nie bemerkt hatte.
Meiendörfer schnäuzte sich die Nase.
»Das Geniale an Winter war, dass er Glück hatte«, fuhr Burri fort. » Prozac … das war eine frühe Erfindung. Sie brachte ihm Ruhm und Geld wie Heu. Das Mittel war eine Hängematte für ihn … unser Professor richtete sich aufs Warten ein. Das Warten auf den Nobelpreis!« Es kam ein heiseres Lachen. »Es wurde langsam zur Groteske.«
»Und das Mittel, das du den Randständigen verfüttert hast … stammt es denn von dir?« Eschenbach sagte es hart und abschätzig. Dann deutete er mit dem Kinn zu Meiendörfer. »Oder hat es vielleicht dein Freund besorgt?«
»Ja und nein.« Burri wog die Worte gegeneinander ab.
»Geht’s etwas genauer?«
»Tobias hatte einen guten Kontakt zu Winter. Vom SND aus … man unterhielt sich über Forschungsergebnisse; eigene und fremde. Das übliche Geben und Nehmen halt. Sie saßen in wissenschaftlichen Gremien … und so ist über die Jahre eine spezielle Art von Vertrauen entstanden. Man brauchte sich eben.«
»Dann wurde Winter vom SND erpresst?«, wollte Eschenbach wissen.
»Nicht direkt.«
»Dann halt indirekt.« Der Kommissar, dem das Gerede um die Geheimdienste langsam auf den Geist ging, wurde ungeduldig. »Wenn er in deinen Augen ein Zauderer ist, wird er wohl nicht von sich aus mitgeholfen haben, oder?«
»Sagen wir so, er hat sich nicht daran gestört.«
»Bis er von den Versuchen Wind bekommen hat, nehme ich an.«
»Ja, durch einen dummen Zufall.« Burri fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Tobias und Winters Assistent, dieser Konrad Schwinn … sie sind in derselben militärischen Einheit. Gleiche Kompanie, gleiche Aufgaben. Da muss Schwinn an gewisse Unterlagen herangekommen sein.«
»Und damit ist er zum Professor gerannt, nehme ich an.«
Burri nickte. »Jedenfalls ist Winter dann zu uns gekommen und hat angekündigt, Anzeige zu erstatten … wir haben einen Deal gemacht.«
»Aber nicht mit Schwinn«, folgerte Eschenbach. »Der war außen vor …«
Dem Kommissar dämmerte es langsam. Es wurde ihm klar, über welch verschlungene Wege er zu seiner Schützenhilfe gekommen war. »Wo ist Schwinn jetzt?«
»Weiß ich
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