Eisweihnacht
Die Zitronen in den Kisten am Boden – hart gefroren und zweifellos verdorben. Wie gut, dass sie vor einer Woche die wertvollsten frostempfindlichen Waren nach oben geholt hatten. Bloß eben den Wein nicht, weil der Vater schimpfte, es wäre nicht nötig, und die viele Bewegung würde den edlen Tropfen schaden.
Der Vater begann jedes Jahr Anfang Dezember unleidlich zu werden. Vielmehr, noch unleidlicher als sonst. Ein Nörgler und Grantler war er ohnehin, außer natürlich mit Kunden und Geschäftsfreunden – zu denen war er ganz liebenswürdig. Ein richtiger Charmeur konnte er da sein. Nur nicht zu Haus.
Der Advent und das Weihnachtsfest waren aber tatsächlich jedes Jahr seine grantigste Zeit. Dabei könnte man es so nett haben zu den Festtagen, dachte Elise. Wie sollte man denn den langen Winter ertragen, ohne es sich wenigstens um die Weihnachtszeit schön zu machen und ein bisschen Licht und Freude in das alte, dunkle Haus zu holen? Das Best’sche Stammhaus lag im Tuchgaden hinterm Roten Haus, hier war alles dicht an dicht gebaut, und die Sonne sah man nie. Elise würde so gerne in die Neustadt ziehen, wo die Gassen nicht so eng waren und die Fenster nicht so klein. Doch das ließ das Geschäft angeblich nicht zu.
Wenn der Vater nur vergessen könnte.
Genau das konnte er nicht. Beide seiner Frauen, die erste, Elises Mutter, und später die zweite, hatte er an Heiligabend verloren. Darüber war ihm noch einiges andere abhandengekommen. Seine Lebenslust und sein Humor zum Beispiel und, wusste Elise, sein Glaube an Gott. Und ganz bestimmt seine Freude am Weihnachtsfest, dessen Bilder, Düfte und Klänge den Kaufmann Best an Ereignisse erinnerten, an die er nicht erinnert werden wollte. Weshalb er leider seinem gesamten Hausstand verbot, in irgendeiner Form das Fest zu begehen. Weihnachten gab es nicht im Hause Best. Und Advent natürlich auch nicht. Draußen aber war die Festzeit nur allzu präsent. Denn wenn man mitten in der Altstadt wohnte, so nahe am Christkindchesmarkt, konnte man ihr kaum entgehen.
«Elise! Elise, Potzteufel noch mal! Wir suchen dich überall!»
Elise schrak zusammen, so in Gedanken war sie gewesen. Schwer atmend kam der Vater, den Kopf gebeugt, durch die niedrige Eingangswölbung mit der schmiedeeisernen Gittertür in den Lagerraum. Ernst Wolfgang Best war ein mittelgroßer Mann mit zur Röte neigendem Gesicht, grauen, lockigen Haaren, der Mode gemäß nach vorn gekämmt, die sich in der Mitte etwas lichteten, und einer Nase und einem Kinn, die beide schon immer Überlänge besessen hatten und mit fortschreitendem Alter die Tendenz zeigten, einander näherzukommen. Streng sah Best erst seine Tochter an, dann seine goldene Taschenuhr, dann wieder Elise. «Was treibst du hier unten? Wie siehst du überhaupt aus? Du wirst oben gebraucht, es kommt Besuch. Marsch ab hoch, dass du dich wenigstens ein bisschen hübsch machst.»
«Papa, der Wein … schau her, die Flaschen hier sind alle hin, der Frost …»
«
Merde
, verdammte. Aber mach dich jetzt hoch, ab marsch.»
«Wer kommt denn?»
«Wirst du gleich merken. Jetzt verdammt noch mal hoch mit dir. Wie sehen deine Haare aus? Geh zu deiner Tante, die soll schauen, was sie mit dir anfängt.» Der Kaufmann Best selbst allerdings folgte seiner Tochter nicht, sondern ging mit langen Schritten in die hintere Ecke, um mit eigenem Auge zu begutachten, wie der strenge Winter seine Waren verdarb.
Die Treppe vom Keller ins Erdgeschoss war Elise verhasst. Oft schlüpfrig, liefen die Stufen steil die Wand des Gewölbeeingangs hoch. Auf der Seite, wo keine Wand war, da war auch kein Geländer. Elise hatte als Kind die Kinderlähmung gehabt, nur leicht, aber der linke Unterschenkel war nicht sonderlich gut zu gebrauchen. Fürs gewöhnliche Gehen kam sie gut und ohne Krücken zurecht. Sie konnte sogar schwere Kisten schleppen (na ja, nie mehr als eine auf einmal). Steile Treppen aber waren eine Sache für sich. Wenn Elise vor etwas Angst hatte, dann davor, eines Tages von der Gewölbetreppe zu stürzen und sich alle Knochen zu brechen.
Als sie die Treppe glücklich geschafft hatte, wartete oben in der Diele die verwitwete, kinderlose Tante Lotte, eine lustige, verträgliche Person mit derselben langen Nase wie der Vater. Jetzt zitterte ihr Vogelkopf leicht, was bei ihr Aufregung anzeigte. Die Tante scheuchte ihre Nichte hoch in deren Schlafzimmer, wo sie auf dem Bett schon eins der guten Kleider zurechtgelegt hatte. «Kind», sagte Tante Lotte
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