Eisweihnacht
kopfnickend und hektisch, «ich weiß auch nicht, was dein Vater sich denkt, uns so spät zu informieren. Es ist doch auch gar nicht die Zeit für Besuch, direkt nach dem Mittagessen. Komm, beeil dich, damit ich dich noch frisieren kann.»
«Wer kommt denn überhaupt?», fragte Elise, die das immer noch nicht wusste und sich wunderte, dass die Tante so ernst und nervös schien. Eigentlich pflegte Tante Lotte sich eher über ihren Bruder und seine Launen zu mokieren, als dass sie sich von ihnen das Leben schwer machen ließ.
«Irgendein Pfarrer», verkündete die Tante.
«Wie? Irgendein Pfarrer?»
«Der Wartenstein bringt einen Freund mit.»
Elise machte große Augen. «Wie, und da muss ich unbedingt die Aufwartung machen und danebensitzen?»
Der Pfarrer Wartenstein von der Paulskirche war seit dem Debakel mit Papas zweiter Frau dessen Busenfreund. Genau genommen, seit die Herren festgestellt hatten, dass sie erstens beide gerne Schach spielten, zweitens beide gerne Zigarre rauchten und drittens beide einen gewissen Zynismus gegenüber der Welt pflegten und sich in dieser Haltung wechselseitig wunderbar bestärkten.
«Nicht nur du», sagte die Tante. «Wir sollen beide dabei sein. Line macht Kaffee. Elischen, du solltest dich freuen. Sonst beschwerst du dich doch, dass wir so selten Besuch haben und es so trist hier im Haus ist.»
Inzwischen saß Elise an der Frisierkommode, und die Tante ziepte ihr an den Haaren herum, die bekanntermaßen eine Katastrophe waren: karottenrot und kraus dazu. Elises Haare galten in der Familie neben ihrem lahmen Bein als der Grund, warum sie nicht verheiratet war. Insgeheim sagte sich Elise, es spiele dabei womöglich auch eine Rolle, dass der Vater sie gern zu Hause und beschäftigt hielt. Viel in Gesellschaft kam sie gerade nicht. Jedenfalls seit der Kaufmann Best seine zweite Frau verloren hatte und Elise die Aufgabe zufiel, den Vater als liebende, aufmerksame Tochter und Helferin darüber hinwegzutrösten. Andererseits, man konnte auch nicht gerade sagen, dass sie sich gegen diese Rolle je gewehrt hätte. Im Gegenteil.
«Was sollen wir den Herren denn anbieten?», fragte sie. «Dank Papas Spleen haben wir ja kein Stück Weihnachtsgebäck da.»
«O doch, mein Kind. Ich habe nämlich die Line zum Markt geschickt. Und ich hab ihr gesagt, sie soll lieber etwas mehr nehmen.»
Die beiden Frauen kicherten. Über das Gebäck, das so nun doch noch ins Haus kam, freuten sie sich bestimmt mehr, als der Besuch es tun würde.
D ie Straßen waren allesamt eisglatt. Mit einem Schlitten wäre man wahrscheinlich ganz gut vorangekommen. Der Postwagen aus Camberg aber rutschte in jeder leichten Kurve, man bewegte sich im Schneckentempo, und als schließlich nahe Liederbach eines der Pferde ausrutschte, stürzte und sich verletzte, da hatte der beinahe zur Eissäule gefrorene Postillon genug. Er sah nach dem Tier, prüfte die Hufe. Keine Stifte im Eisen und keine Vorsorge gegen das Aufstollen von Schnee. Da rutschte ein Pferd natürlich. Wer hatte das denn verbockt? Notdürftig warf er dem verletzten Braunen eine Decke über. Nicht, dass es helfen würde. Dann stolperte und schlitterte er zu Fuß nach Höchst, statt das gesunde Pferd zu reiten, aus Angst, es könnte ebenfalls stürzen und ihm das Bein abdrücken oder Schlimmeres.
In dem nassauischen Städtchen angekommen, besprach er mit dem Posthalter: Man werde zwar die Kutsche mit Ersatzpferden vom Unfallort abholen und nach Höchst bringen, aber heute nicht mehr bis Frankfurt durchfahren. Die Briefe könnten später zu Fuß gebracht werden, die Pakete am nächsten Morgen mit der Taunusbahn.
Als sie endlich mit der Ersatzbespannung am Unfallort eintrafen, da war das gestürzte Pferd tot. Verletzte starben schnell bei diesen sibirischen Temperaturen. Mit Mühen bekamen sie den Kadaver vom Weg. Dann rasch ab zur Höchster Poststation. Dank der grimmigen Kälte hatte die Post von Camberg nur zwei gebuchte Fahrgäste gehabt. Von denen wollte der eine ohnehin nach Wiesbaden weiter und nicht nach Frankfurt. Und der andere, der Junge – nun, sollte er eben laufen.
Josua war steif gefroren, sodass er in Höchst aus der Berline mehr gehoben und gezogen wurde, als dass er sich selbst bewegte. Seine Füße spürte er gar nicht mehr. Die Hände und das Gesicht schmerzten. Ein fremder Mann, es war nicht der Postillon und auch nicht der Herr aus der Kutsche, stellte ihn auf den Boden und hielt ihn an den Schultern, bis er sein Gleichgewicht
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