Eiszeit
Breskin und George Lin den Sender mit zwei je einen Meter und zwanzig langen Belegnägeln im Eis und nahmen eine Überprüfung des Geräts vor. Ihre langen Schatten waren so fremdartig und verzerrt wie die von Wilden, die sich über ein Götzenbild krümmten, und das unheimliche Jaulen des Windes hätte die Stimme des gewalttätigen Gottes sein können, dem sie gerade huldigten.
Selbst das schwache Leuchten des winterlichen Zwielichts war mittlerweile aus dem Himmel verschwunden. Ohne die Scheinwerfer der Schneemobile hätte die Sichtweite keine zehn Meter mehr betragen.
Der Wind war schon den ganzen Morgen über frisch gewesen, doch als er stärker wurde, war er zu einem fürchterlichen Feind geworden. In diesen Breiten konnte ein heftiger Sturm mit seiner Kälte eine Schicht Thermalbekleidung nach der anderen durchdringen. Der feine Schnee wurde bereits so heftig bewegt, daß er parallel zur Eishülle an ihnen vorbeizutreiben schien, als fiele er horizontal aus dem Westen statt aus dem Himmel, ohne je den Boden zu berühren. Alle paar Minuten sahen sie sich gezwungen, die Brillen freizukratzen und die Schneekruste von den Strickmasken zu brechen, die die untere Hälfte ihrer Gesichter bedeckten.
Brian Dougherty stand hinter den gelben Scheinwerfern und wandte das Gesicht vom Sturm ab. Während er die Finger und Zehen bog, um die Kälte abzuwehren, fragte er sich, warum er in diese gottverlassene Einöde gekommen war. Er gehörte nicht hierher. Niemand gehörte hierher. Er hatte noch nie zuvor einen so trostlosen Landstrich gesehen; selbst große Wüsten waren nicht so leblos wie die Eishülle. Jeder Aspekt der Landschaft war eine brutale Erinnerung daran, daß das gesamte Leben nur ein Vorspiel des unausweichlichen und ewigen Todes war, und manchmal machte die Arktis ihn für diese Wahrnehmung so empfindlich, daß er bei den Gesichtern der anderen Expeditionsteilnehmer unter der Haut die Schädelknochen sehen konnte.
Natürlich war er genau deshalb zur Eishülle gekommen: Abenteuer, Gefahr, die Möglichkeit des Todes. Zumindest soviel wußte er über sich selbst, wenngleich diese Gedanken nie lange anhielten und er nur eine schattenhafte Vorstellung hatte, warum er davon besessen war, extreme Risiken einzugehen.
Er hatte schließlich zwingende Gründe, am Leben zu bleiben. Er war jung. Er war zwar nicht überaus stattlich, aber auch nicht der Glöckner von Notre Dame, und er liebte das Leben. Und nicht zuletzt war seine Familie äußerst wohlhabend, und wenn er fünfundzwanzig wurde — in vierzehn Monaten —, würde er die Kontrolle über einen Treuhandfonds von dreißig Millionen Dollar erhalten. Er hatte nicht den geringsten Schimmer, was er mit all diesem Geld anfangen würde, wenn überhaupt etwas, aber das Wissen, daß es ihm gehören würde, war sehr tröstlich.
Überdies öffneten der Ruhm der Familie und die Anteilnahme, die man dem gesamten Klan der Doughertys entgegenbrachte, Türen, die man sonst auch mit noch soviel Geld nicht aufstoßen konnte. Brians Onkel, ein ehemaliger Präsident der Vereinigten Staaten, war von einem Attentäter ermordet worden. Und sein Vater, ein Senator aus Kalifornien, war während einer Vorwahlkampagne vor neun Jahren angeschossen worden und verkrüppelt. Die Tragödien der Doughertys boten Stoff für endlose Titelstories in Zeitschriften, von People über Good House-keeping und den Playboy bis hin zu Vanity Fair, sie waren zu einer nationalen Besessenheit geworden, die sich manchmal aus eigenem Antrieb zu einem schrecklichen politischen Mythos zu entwickeln schien, bei dem die Doughertys keine bloßen gewöhnlichen Männer oder Frauen mehr waren, sondern Halbgötter und Halbgöttinnen, Verkörperungen der Tugend, des guten Willens und der Opferbereitschaft.
Irgendwann würde Brian auch eine politische Laufbahn einschlagen können, sofern ihm der Sinn danach stand. Noch war er zu jung, um die Verantwortung auf sich zu nehmen, die der Name seiner Familie mit sich brachte. In Wirklichkeit floh er vor der Verantwortung. Vor vier Jahren war er nach nur achtzehn Monaten des Jura-Studiums von der Universität Harvard abgegangen. Seitdem war er durch die Welt gezogen, hatte mit Hilfe von American Express und Carte Blanche ›gegammelt‹. Die Abenteuer, die er bei seiner Flucht vor der Wirklichkeit erlebt hatte, hatten ihn auf die Titelbilder der Zeitungen aller Kontinente gebracht. Er war in einer Arena von Madrid einem Stier gegenübergetreten. Auf einer Fotosafari in
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