Eiszeit
Eisberg-Gasse bekannt waren. Er würde in den Nordatlantik gelangen. Zwei Trawler, die zu der Flotte gehörten, die die Vereinten Nationen aufgrund des Geophysikalischen Jahres unterhielten, standen knapp vierhundert Kilometer weiter südlich bereit, um das ständige Funksignal aufzuzeichnen. Mit der Hilfe von geosynchronen Polarsatelliten würden sie die Position des Eisbergs trigonometrisch anmessen und verfolgen, bis das Gebilde visuell aufgrund der wasserunlöslichen, sich schnell ausbreitenden roten Farbe identifiziert werden konnte, mit dem sie weite Teile seiner Oberfläche besprüht hatten.
Der Sinn des Experiments bestand darin, einen allgemeinen Überblick zu bekommen, wie die winterlichen Meeresströmungen die Eisdrift beeinträchtigten. Bevor man Pläne schmieden konnte, Eisberge zu den Küsten von unter Trockenheit leidenden Landstrichen im Süden zu schleppen, mußten die Wissenschaftler herausbekommen, wie die See gegen die Schiffe arbeitete und wie man sie dazu bringen konnte, für sie zu arbeiten.
Es ließ sich kaum verwirklichen, Trawler bis zum Rand der polaren Eishülle zu schicken, damit sie sich dort mit einem riesigen Berg herumschlugen. Auf dem Nordpolarmeer und der Grönland-See wimmelte es von Treibeis, und zu dieser Jahreszeit ließ sich dort nur schwer navigieren. Doch je nachdem, welche Ergebnisse die Experimente brachten, war es vielleicht gar nicht nötig, daß die Schlepper das Eis unmittelbar im Süden der Eisberg-Gasse in Empfang nahmen. Vielleicht wurden die Berge von den natürlichen Strömungen zwei- oder dreihundert Kilometer nach Süden getrieben, bevor man sie dann weiter in südliche Richtung und an eine Küste ziehen mußte.
»Kann ich ein paar Bilder machen?« fragte Brian.
»Keine Zeit dafür«, sagte George Lin kurzangebunden. Er schlug die Hände zusammen und schüttelte dünne Eiskrusten von den schweren Handschuhen.
»Dauert doch nur eine Minute.«
»Wir müssen nach Edgeway zurück«, sagte Lin. »Der Sturm könnte uns den Weg abschneiden. Morgen früh wären wir dann ein steif gefrorener Bestandteil der Landschaft.«
»Ein paar Minuten haben wir übrig«, sagte Roger Breskin. Er schrie nicht halb so laut wie die anderen, doch sein tiefer Baß übertönte den Wind, der sich von einem unheimlichen Stöhnen zu einem weichen, wehklagenden Heulen gesteigert hatte.
Brian lächelte dankbar.
»Spinnst du?« fragte Lin. »Siehst du den Schnee? Wenn wir noch lange warten ...«
»George, du hast bereits eine Minute mit Debattieren verschwendet.« Breskins Stimme war nicht vorwurfsvoll, sondern die eines Wissenschaftlers, der auf nackte Tatsachen hinwies.
Obwohl Roger Breskin vor erst acht Jahren aus den Vereinigten Staaten nach Kanada emigriert war, benahm er sich bereits so ruhig und gelassen, wie es viele vom typischen Kanadier erwarten. Er war selbstbeherrscht und in sich gekehrt, daher machte er sich nicht so schnell Freunde oder Feinde.
Hinter den Brillengläsern kniff Lin die Augen zusammen. »Mach deine Fotos«, sagte er verdrossen. »Roger will sich wohl in den Modezeitschriften wiedersehen. Aber beeil dich.«
Brian hatte gar keine andere Wahl, als schnell zu machen. Die Wetterbedingungen ließen ihm keine Zeit, die Fotos vorzubereiten oder die Schärfe genau einzustellen.
»So in Ordnung?« fragte Roger Breskin und stellte sich rechts neben den Sender.
»Toll.«
Roger dominierte das Bild, wie man schon im Sucher erkannte. Mit seiner Größe von fast einem Meter und achtzig und seinen knapp neunzig Kilo war er zwar kleiner und leichter als Pete Johnson, aber genauso muskulös wie der ehemalige Football-Star. Die letzten zwanzig seiner sechsunddreißig Jahre hatte er Gewichte gehoben. Seine Bizepse waren gewaltig und mit Adern überzogen, die an Stahlrohre erinnerten. In der arktischen Kleidung war er eine beeindruckende, bärenhafte Gestalt, die hierher zu gehören schien.
George Lin, der links von dem Sender stand, ähnelte Breskin in etwa, wie ein Kolibri einem Adler ähnelt. Er war kleiner und schlanker als Roger, aber die Unterschiede waren nicht nur körperlicher Natur. Wo Roger so stumm und ruhig wie ein Eiszapfen stand, schwankte Lin von einer Seite auf die andere, als würde er jeden Augenblick vor Nervosität explodieren. Er hatte nichts von jener sprichwörtlichen Geduld, die als charakteristisches Merkmal des asiatischen Wesens gilt. Im Gegensatz zu Breskin gehörte er nicht in diese gefrorene Einöde und wußte es auch.
George Lin war 1946
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