Eiszeit
der Eiswand.
Erneut leuchtete Rogers Taschenlampe von oben herunter.
Als der Nagel sicher verankert war, hakte Brian eine zusammengerollte, zweieinhalb Meter lange Nylonschnur von seinem Gürtel los. Bevor er hinabgestiegen war, hatte er ein Ende davon in einen Karabiner verknotet. Nun verband er den Karabiner mit dem Nagel und schraubte die Sicherheitssperre zu. Das andere Ende band er um seine Hüfte. Der daraus resultierende Spielraum würde ihn, sollte er ausrutschen und von dem Vorsprung fallen, knapp am Tod vorbeischlittern lassen, gab ihm jedoch soviel Bewegungsfreiheit, daß er sich um George Lin kümmern konnte. Auf diese Weise gesichert, löste er die Knoten, die sein Geschirr vor der Brust und unter den Armen zusammenhielten. Als er sich vom Hauptseil befreit hatte, rollte er es zusammen und legte es um seinen Hals.
Um nicht voll der boshaften Kraft des Windes ausgesetzt zu sein, ließ er sich auf Hände und Knie hinab und kroch zu Lin. Das Licht von Roger Breskins Taschenlampe folgte ihm. Er löste seine eigene vom Gürtel, legte sie am Rand der Klippe auf das Sims und richtete sie so aus, daß der Strahl auf den Bewußtlosen fiel.
War Lin bewußtlos — oder tot?
Um die Antwort auf diese Frage herauszubekommen, mußte er sich das Gesicht des Chinesen ansehen. Es war nicht einfach, den Mann auf den Rücken zu drehen, denn Brian mußte darauf achten, daß der Wissenschaftler nicht in den Abgrund rollte. Als Lin endlich auf dem Rücken lag, war er wieder bei Bewußtsein. Seine bernsteingelbe Haut — zumindest die paar freiliegenden Quadratzentimeter seines Gesichts — war schockierend bleich. Unter dem Schlitz in der Maske arbeitete sein Mund, doch kein verständliches Geräusch kam über seine Lippen. Hinter der frostverkrusteten Brille waren die Augen geöffnet; sie brachten eine gewisse Verwirrung zum Ausdruck, doch es schien sich nicht um die eines Mannes zu handeln, der starke Schmerzen hatte oder im Delirium lag.
»Wie fühlst du dich?« brüllte Brian gegen den schrillen Wind an.
Lin starrte ihn verständnislos an und wollte sich aufrichten.
Brian drückte ihn wieder hinab. »Sei vorsichtig! Sonst stürzt du ab.«
Lin drehte den Kopf und starrte in die Dunkelheit, aus der der Schnee nun noch schneller heranströmte. Als er dann wieder Brian ansah, war er noch bleicher geworden.
»Bist du schwer verletzt?« fragte Brian. Wegen der Thermalkleidung, die Lin trug, konnte Brian nicht feststellen, ob der Mann sich irgendwelche Knochen gebrochen hatte.
»Ein Schmerz in der Brust«, sagte Lin gerade so laut, daß er sich über den Sturm verständlich machen konnte.
»Das Herz?«
»Nein. Als ich über den Rand fiel... das Eis bewegte sich noch ... von der Welle ... der Abhang war geneigt. Ich bin hinab gerutscht ... und hier unten hart auf der Seite gelandet. An mehr erinnere ich mich nicht.«
»Gebrochene Rippen?«
Lin atmete tief ein und zuckte zusammen. »Nein. Wahrscheinlich nicht. Nur geprellt, glaube ich. Tut verdammt weh. Aber nichts gebrochen.«
Brian nahm das zusammengerollte Seil von seinem Hals. »Ich muß es unter deinen Armen und auf der Brust verknoten. Hältst du das aus?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Nein.«
»Dann werde ich es aushalten.«
»Du mußt dich aufsetzen.«
Stöhnend schob Lin sich in eine sitzende Position hoch. Sein Rücken berührte die Eiswand, die Beine baumelten über dem Abgrund.
Brian stellte schnell ein Geschirr her, zog einen festen Doppelknoten über Lins Brustbein und stand auf. Er bückte sich und half dem Verletzten auf die Füße. Sie drehten sich an Ort und Stelle, damit sie das Meer und den mörderischen Wind im Rücken hatten. Trockener, fast körniger Schnee schlug gegen die Eiswand, prallte davon ab und peitschte gegen ihre Gesichter.
»Fertig?« rief Roger sechs Meter über ihnen.
»Ja. Aber mach langsam!«
Lin schlug mehrmals laut die Hände zusammen. Eisscheibchen fielen von seinen Handschuhen. Er krümmte die Finger. »Sind ganz taub. Ich kann die Finger bewegen ... spüre sie aber kaum.«
»Du kommst wieder in Ordnung.«
»Fühle die Zehen ... überhaupt nicht mehr. Bin müde. Nicht gut.«
Damit hatte er völlig recht. Wenn der Körper so kalt wurde, daß er zum Schlafen aufforderte, um wertvolle Wärme zu bewahren, konnte der Tod nicht weit entfernt sein.
»Sobald du oben bist, gehst du in den Schlitten«, sagte Brian. »Nach einer Viertelstunde bist du so warm wie ein Toast.«
»Du hast mich gerade noch rechtzeitig erreicht.
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