Eiszeit
Warum?«
»Warum was?«
»Du hast dein Leben riskiert.«
»Das ist wohl etwas übertrieben.«
»Doch, hast du.«
»Na ja, hättest du nicht dasselbe getan?«
Das straffe Seil wurde nach oben gezogen und nahm George Lin mit. Der Aufstieg verlief glatt. Doch an der Spitze des Abhangs blieb Lin hängen; sein Oberkörper war bereits über dem Rand, der Rest von ihm baumelte im Wind. Er war zu schwach, um sich in Sicherheit zu ziehen.
Roger Breskins jahrelanges Training als Gewichtsheber zahlte sich nun aus. Er stieg aus dem Schneemobil und zog George Lin problemlos das letzte Stück auf den Eisberg hoch. Er löste das Geschirr von den Schultern des Mannes und warf das Seil wieder zu Brian hinab.
»Hole dich... sobald... George in Sicherheit...!« rief er. Obwohl seine Stimme vom Wind zerfetzt wurde, war die Besorgnis darin unverkennbar.
Vor nur einer Stunde hätte Brian sich nicht vorstellen können, daß Roger — der ihm mit seinem Stiernacken und dem gewaltigen Bizeps und den starken Händen und dem unerschütterlichen Selbstvertrauen manchmal wie aus Stein gemeißelt vorkam — vor irgend etwas Angst haben könnte. Nun, da die Furcht des anderen Mannes offensichtlich war, schämte Brian sich des Entsetzens nicht mehr so stark, das seine Eingeweide zusammenzog. Wenn ein hartes Arschloch wie Roger für Furcht empfänglich war, durfte sich sogar einer der stoischen Doughertys dieses Gefühl ein paar Mal in seinem Leben leisten.
Er ergriff das Seil und schirrte sich wieder an. Dann löste er das Sicherungsseil von seiner Hüfte, band das andere Ende von dem Karabiner, rollte es zusammen und hakte es an seinem Gürtel fest. Er hätte auch den Nagel geborgen, hätte er die Mittel und die Kraft gehabt, ihn aus dem Eis zu ziehen. Ihre Vorräte, der Treibstoff und das Werkzeug waren plötzlich von unschätzbarem Wert. Sie durften nichts mehr verschwenden oder zurücklassen. Niemand konnte vorhersagen, welcher nun unbedeutende Ausrüstungsgegenstand vielleicht einmal von äußerster Bedeutung für ihr Überleben sein würde.
Er dachte bewußt in Begriffen von ihrem und nicht seinem Überleben, denn er wußte, daß er das Expeditionsmitglied war, bei dem am unwahrscheinlichsten war, daß es die bevorstehende schwere Prüfung überlebte. Obwohl er ein vierwöchiges Training beim Arktischen Institut der US Army absolviert hatte, war er mit der Eishülle nicht so vertraut und nicht so gut darauf eingestellt wie die anderen. Überdies war er über einsachtzig groß und wog knapp achtzig Kilo. Emily, seine älteste Schwester, hatte ihn seit seinem sechzehnten Lebensjahr Bohnenstange genannt. Aber er war breitschultrig, und seine schlanken Arme waren muskulös. Er mochte zwar ein schmales Handtuch sein, war aber kein Schwächling. Ein Schwächling hätte nie die Stromschnellen des Colorado hinabfahren, mit Haijägern vor Bimini tauchen oder die Berge im Staat Washington besteigen können. Und solange er ein warmes Iglu oder einen beheizten Raum in der Station Edgeway hatte, in den er sich zurückziehen konnte, nachdem er einen langen Tag der schwächenden Kälte ausgesetzt gewesen war, konnte er sich einigermaßen warm halten. Doch das war etwas anderes. Die Iglus waren wahrscheinlich zerstört worden; und selbst wenn sie das Beben überstanden hatten, war in den Tanks der Schneemobile nur noch genug Kraftstoff und in den Batterien nur noch genug Energie, um sie höchstens einen Tag lang warm zu halten. In diesem Fall hing das Überleben von einer besonderen Kraft und Zähigkeit ab, die nur mit der Erfahrung kam. Er war überzeugt, nicht die nötige Stärke zu haben, diese Umstände zu überstehen.
Am meisten bedauerte er an seinem Tod die Trauer, die seine Mutter empfinden würde. Sie war die beste der Doughertys, stand weit über dem Schmutz der Politik und hatte schon genug Leid erfahren. Bei Gott, mit seiner Einstellung hatte Brian ihr mehr als genug...
»Bist du fertig?« rief Roger Breskin.
»Ich warte nur auf dich.«
Roger kehrte zum Schneemobil zurück.
Brian hatte sich kaum auf die neue Anstrengung vorbereitet, als das Seil auch schon hochgezogen wurde und seine schmerzenden Schultern einer neuen und noch schrecklicheren Belastung aussetzte. Vom Wind gebeutelt, halb ohnmächtig vor Schmerz, unfähig, nicht mehr an das gewaltige nasse Grab zu denken, das tief unter ihm Wellen schlug, glitt er so sanft den Hang hinauf, wie fünf Minuten zuvor George Lin es schon getan hatte. Als er den Rand erreichte, konnte er
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