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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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über die verkommenen Wohnfassaden der Nebenstraßen mit ihren kommunalen Wohnungen, die sich häufig jeweils mehrere Familien teilen müssen.
    Auch in den folgenden Tagen – der berufliche Alltag hat Lucretia längst schon wieder in seinen Fängen – sind ihre Begeisterungsstürme noch nicht abgeflaut. Und in der Weihnachtszeit gelingt es ihr sogar, Claudia davon zu überzeugen, im nächsten Sommer nochmals in die Stadt ihrer Träume, diesmal aber gemeinsam mit ihr zu reisen. Claudias Einwand, Angst vor dem Fliegen zu haben, zerschlägt sie kurzerhand: „Wie willst du das beurteilen, ohne jemals geflogen zu sein, he? – Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche wundersamen Empfindungen so hoch über den Wolken geweckt werden. Ich finde es toll, auf diese Weise Gott ein Stück näher zu sein!“
    Noch bevor das Jahr zu Ende ist, melden sich die beiden beim Reisebüro für eine Sommerreise an. Es besteht die berechtigte Hoffnung, daß es im Juni 1980 damit klappen könnte. Die Planung des Jahresurlaubs scheint damit unter Dach und Fach zu sein.
    Mitte Januar befallen Lucretia erneute Ängste. Tagelang quält sie sich mit Schlaflosigkeit herum, grübelt über den Sinn des Lebens, verkriecht sich in ihr seelisches Mauseloch. Doch diesmal sucht sie einen Facharzt auf. Der erkennt auch gleich das Problem. Seine Diagnose: Endogene Depression. Er will sie zu einem stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik bewegen. Doch dagegen sträubt sie sich vehement, meint, daß eine ambulante Behandlung für sie viel günstiger wäre. Und der Arzt vertraut ihr, verschreibt Medikamente und verordnet eine psychotherapeutische Behandlung in einer Gesprächsgruppe. Eine Zeitlang geht sie mehrmals wöchentlich zu deren Sitzungen, doch sie scheut sich, ihr Innenleben vor anderen zu entblößen. So macht sie nur halbherzig mit, und als sie eine plötzliche Besserung ihres Zustandes verspürt, bricht sie die Gruppentherapie kurzerhand ab.
    Es scheint ihr, daß das therapeutische Palaver in der Gruppe keinen Nutzen bringt und sie sich letzten Endes nur selbst helfen kann. Deshalb beschränkt sie sich darauf, brav ihre Medikamente zu schlucken. Und siehe da: Die Depressionen verschwinden.
    Dieser erfreuliche Umstand und das Frühlingserwachen mobilisieren ihre Lebensgeister. Sie geht mit Elan ihrer schweren pflegerischen Tätigkeit nach, ist ausgeglichen und zufrieden, richtet ihre Lebensperspektive neu aus und gerät zuweilen in solch euphorische Stimmung, daß sie die ganze Welt umarmen könnte. Claudia ist über alle Maßen verwundert, wie gut es ihrer Schwester jetzt geht, die nun auch die Eltern wieder häufiger besucht.
    Und so vergehen die nächsten Monate ohne jegliches Anzeichen einer krankhaften seelischen Veränderung.
    Am frühen Sonntagmorgen des 1. Juni 1980 sitzen Lucretia und Claudia erwartungsfroh im D-Zug nach Berlin, die Tickets für den Flug nach Leningrad im Reisegepäck. Gegen Mittag erreichen sie den Flughafen Schönefeld. Noch ist etwas Zeit für einen Imbiß. Zwei Stunden vor Abflug melden sie sich bei der Reiseleiterin. Sie wird in den nächsten beiden Wochen sorgsam darüber wachen, daß die Reisegruppe brav geschlossen bleibt. Es soll ein kollektives Erlebnis werden, nichts für Individualisten.
    Als die Reisegruppe einen Bus besteigt, um irgendwo auf dem Flughafengelände zu dem dort wartenden Flieger zu gelangen, verspürt Claudia ein intensives, mulmiges Gefühl im Bauch. Jetzt könnte sie auf der Stelle kehrtmachen und würde alles dafür geben, auf festem Boden bleiben zu können. Zu spät. Lucretia, die das Unbehagen ihrer Schwester bemerkt, beruhigt sie mit der Gelassenheit eines Flugprofis.
    Die Tage in Leningrad vermitteln unzählige bleibende Eindrücke. Auch Claudia ist begeistert, bereut keineswegs, sich auf dieses Unterfangen eingelassen zu haben. Mit Interesse, Bewunderung, Ausdauer, frohem Sinn, aber auch kritischer Distanz zu manchen Realien im Mutterland des Sozialismus nehmen die beiden Schwestern die große, schöne Stadt in sich auf, auch wenn allabendlich lindernde Fußbäder angesagt sind.
    Plötzlich, zwei Tage vor der Heimreise, zeigt Lucretia eine jähe Unlust für weitere Unternehmungen. Sie klagt über Müdigkeit und Erschöpfung, will lieber im Hotelzimmer bleiben und sich ausruhen.
    Claudia vermutet, daß Lucretias bisheriger touristischer Tatendrang ihre körperlichen Kräfte aufgebraucht hat, fragt aber, um sicher zu gehen: „Sonst ist nichts weiter? – Du bist

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