Ekel / Leichensache Kollbeck
bleibst du brav liegen, ich mach’ erst mal ein wenig Ordnung, dann trinken wir ’nen Tee und du erzählst mir mal alles in Ruhe, einverstanden?“ fragt Claudia resolut.
„Ach, daß ich dich damit belästige. Ich schäme mich so, ich habe keine Kraft mehr, mir wächst alles über den Kopf“, klagt Lucretia, verläßt aber das Bett, um Claudia nicht allein mit den Aufräumarbeiten zu lassen. Die jüngere Schwester übernimmt die Regie über die Reinigungsprozedur, und Lucretia folgt ihren Anweisungen. Die Anstrengung ist ihr anzusehen. Als Claudia den Mülleimer leeren will, wirft sie einen prüfenden Blick in den Abfall: Mehrere leere Schachteln des Abführmittels „Fucovesin“ fallen ihr auf.
„Was machst du mit so viel Abführmitteln“, fragt sie.
„Mein Darm ist so träge, daß ich die brauche“, erwidert die Schwester.
„Und wieviel nimmst du davon?“
„Nur ab und zu mal eine“, lügt Lucretia. Sie wagt nicht zuzugeben, daß die wahre Dosis viel höher liegt.
Nach getaner Arbeit sieht die kleine Wohnung wieder behaglich aus. Lucretia fällt ihrer Schwester dankbar um den Hals:
„Ohne dich hätte ich das nie geschafft!“
Zunehmend löst sich ihre innere Spannung. Das ernste, leere Gesicht beginnt wieder Leben zu zeigen. Beim Tee wird sie gesprächig. Sie beschreibt Claudia ihren augenblicklichen Zustand: Seit Wochen quäle sie sich nur noch herum, sei bei kleineren Belastungen bereits erschöpft. Rücken-, Kopf- und Bauchschmerzen kämen hinzu. Vor allem morgens gehe es ihr besonders schlecht. Sie wird plötzlich von unbegründeten Ängsten gepackt, glaubt, ihre Aufgaben nicht erfüllen zu können, vermutet, daß hinter ihrem Rücken über sie geredet wird, spürt, das eigene Leben nicht mehr zu meistern, und sieht einer ungewissen, mehr bedrückenden Zukunft entgegen. Derartige Empfindungen könne sie sich nicht erklären. Sie fielen plötzlich über sie herein, ohne jeden äußeren Anlaß. Manchmal wäre ihr so, als läge die Ursache für die plötzlichen Angstzustände und die um sich greifende Abgespanntheit tief in ihrem Bauch. Allerdings: Im Laufe des Tages bessere sich der Zustand. Die Nachmittags- und Abendstunden wären wenigstens erträglich. Nur die Erschöpfung sei so groß, daß sie nur von einem einzigen Gedanken beherrscht wird: schlafen! Sie nutze jede Gelegenheit dazu. Das sei auch der Grund, warum sie ihre Wohnung so vernachlässigt habe. Sie müsse mal ausspannen, eine Kur beantragen oder Urlaub machen, habe der Stationsarzt ihr geraten. Das ist leichter gesagt als getan. Diese schlecht bezahlte, ständig unter Volldampf stehende Berufsgruppe leide seit langem unter chronischem Nachwuchsmangel. Und viele junge Schwestern blieben spätestens mit dem ersten Kind gleich ganz zu Hause. Also: Wer soll sie in der Urlaubszeit vertreten? Nein, das ist schwierig und muß doch lange vorher geplant werden. Doch, die letzte Urlaubsreise läge bereits vier Jahre zurück, wo sie sich im FDGB-Urlaubergetümmel in Bansin auf Usedom eigentlich nicht erholt hätte.
„Du darfst in deinem Zustand keine Rücksicht auf andere nehmen“, mahnt Claudia, „jetzt mußt du an deine Gesundheit denken. Sieh dich mal an, so abgemagert und blaß, du bist doch fix und fertig! Jetzt denk mal nur an dich, nur an Erholung und Abwechslung, dann wirst du auch deine schlimmen Gedanken los!“
„Meinst du?“ fragt Lucretia etwas hilflos und setzt den Gedanken fort: „Ich würde ja zu gern …, ich meine, vierzehn Tage Leningrad, das habe ich mir immer schon mal gewünscht.
„Prima“, triumphiert Claudia, „genau das machst du! Und du wirst sehen, wie schnell du auf andere Gedanken kommst.“
Der Besuch ihrer Schwester hat Lucretia gutgetan. Sich eine Urlaubsreise nach Leningrad zu gönnen, scheint das beste Mittel zur Selbsthilfe zu sein, sich aus den Fesseln ihres Versagens, ihrer Ängste und Bedrücktheit zu befreien. Zerstreuung heißt nun das Zauberwort für die Eigentherapie. Und der Gedanke an die Erfüllung des langgehegten Wunsches, die alte Zarenstadt an der Newa zu besuchen, führt sie bald ins Reisebüro: Für die Anmeldung muß sie einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen. Als frühester Reisetermin wird die erste Dezemberhälfte in Aussicht gestellt. Das heißt, noch einige Monate warten. Aber immerhin: Besser als abgelehnt!
Claudia sorgt sich auch weiterhin um ihre große Schwester, wacht darüber, daß sie regelmäßig ißt und wieder zu Kräften kommt. Diese Obhut trägt auch
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