Ekel / Leichensache Kollbeck
wieder schwach, überflüssig, mutlos und würde am liebsten die Arbeit aufgeben. Aber es gelingt ihr stets, erfolgreich dagegen anzukämpfen. Wenn sie diese kurzen Episoden überwunden hat, erwachen ihre Lebensgeister von neuem. Sie schöpft wieder Zuversicht, und das Selbstvertrauen meldet sich zurück – eine wichtige Voraussetzung für die weitere Lebensbewältigung. Auch die Vorfreude auf das immer näher rückende Leningrad-Erlebnis hebt die Stimmung. Diese erreicht einen Höhepunkt, als im Oktober das Reisebüro den Vertrag zusendet. Nun ist alles perfekt, die Verbindlichkeiten sind besiegelt. Fast unbemerkt gleitet die Vorfreude auf das bevorstehende Ereignis in ein erquicklich-erregendes Reisefieber über, das alle aufkeimenden Ängste zu ersticken scheint.
Selbst Claudia kann ihre Aufregung kaum zügeln, besonders, als Lucretia voller Stolz die Reisepapiere in den Händen hält. Nun ist es gewiß: Sie wird in den frühen Morgenstunden des 2. Dezember mit dem D-Zug von Erfurt nach Berlin fahren, um vom Flughafen Schönefeld mit einer Aeroflot-Chartermaschine gen Leningrad zu starten.
Claudia fragt: „Hast du denn keinen Bammel vorm Fliegen, das ist doch das erste Mal?“
„Warum sollte ich“, antwortet Lucretia souverän, „ich hab mir das immer schon gewünscht.“
„Mich würde da keiner reinkriegen!“ meint Claudia abwehrend. Und irgendwie ist sie verwundert, daß Lucretia, die schon von so fürchterlichen Ängsten gepeinigt wurde, so gelassen über ihren ersten Flug sprechen kann.
Vor der Reise ist Lucretias Aufmerksamkeit hauptsächlich auf zwei Dinge gerichtet: Zum einen muß sie ihren Dienst auf der Station meistern, denn Beanstandungen wären jetzt das reinste Gift für ihren Seelenzustand. Zum anderen sind Reisevorbereitungen zu treffen, weil der russische Winter kalt ist und die vielen Sehenswürdigkeiten das Studium eines Reiseführers erfordern.
Die Tage verfliegen in Windeseile. Lucretia hat Tagdienst: Bettenmachen, Patienten waschen, Essen und Medikamente austeilen, Blut abnehmen, ärztliche Verordnungen durchführen, Untersuchungsmaterialien zum Labor bringen, Verbände wechseln, freundliche Gespräche mit den Patienten führen – das alles geht ihr locker von der Hand. Nichts ist zu spüren von den unbegründeten Ängsten, die ihre Seele noch vor kurzer Zeit marterten. Jetzt fühlt sie sich glücklich, glaubt, die Krise endgültig überwunden zu haben.
Am Dienstag, dem 2. Dezember, ist es endlich soweit. Claudia erscheint schon frühzeitig bei ihr, um sie zum Hauptbahnhof zu begleiten. Ihr Dienst beginnt erst sehr viel später. Die prickelnde Erwartung hat beiden Schwestern einen unruhigen Schlaf bereitet. Lucretia schwelgte bereits in vorgedachten Reiseerlebnissen, während Claudia insgeheim befürchtete, daß Lucretias schlimme Ängste plötzlich wieder hervorbrechen und das schöne, langersehnte Vorhaben schnöde vereiteln könnten. Doch nun ist sie beruhigt und kann nur noch hoffen, daß Lucretia diese Reise in jeder Hinsicht schadlos übersteht.
Als der Zug pünktlich den Bahnhof verläßt und Lucretia ihr aus dem Zugfenster noch einmal zuwinkt, ist sie nicht nur Teilhaber an der übermäßigen Freude ihrer Schwester, deren großer Wunsch sich nun zu erfüllen beginnt, sondern es überkommt auch sie eine ungeheuere Lust auf Ferne.
Lucretia ist nach zwölf Tagen von ihrer großen Reise zurück, und – obwohl sie nach der Ankunft in ihrem Leningrader Hotel gleich eine Ansichtskarte per Eilboten schrieb – Claudia hat immer noch keine Post von ihr. Wenn schon die Wege Gottes unerforschlich sind, die der sozialistischen Post sind es allemal. Aber die Wiedersehensfreude der Schwestern überwiegt die kleine Enttäuschung. Die erste Frage Claudias: „Und wie ging es dir gesundheitlich?“ beantwortet Lucretia mit einem zufriedenen „Prima“.
Erst dann darf Lucretia berichten: Sie ist voller Begeisterung über die ungewöhnliche, alte, russische Hauptstadt, die, auf mehr als einhundert Inseln erbaut, zu den schönsten Städten der Welt zählen soll. Diese schicksalsgeprüfte Stadt hat es ihr angetan, in der sich kunstvolles Barock aus der Zeit Peters des Großen mit dem zuckerbäckerartigen Expressionismus der Stalinzeit verbindet. Lucretia beschreibt die unzähligen pompösen Museen mit ihren Kunstschätzen, von denen sie nur einen Bruchteil bestaunen konnte. Sie spricht über die großen historischen Prachtbauten und gepflegten Parkanlagen mit ihren Kaskaden, aber auch
Weitere Kostenlose Bücher