Ekel / Leichensache Kollbeck
der Obhut der Schwangerenfürsorge, zumindest aber eines Arztes anvertraut habe. Sie verneint und befreit sich aus der Peinlichkeit mit der Lüge, es umgehend nachzuholen. Die Eltern vertrauen ihr.
Doch weitere Monate vergehen. Nach wie vor verdrängt Ulla das unvermeidliche Geschehen in ihrem Leib. Ihr Plan, das neue Leben nicht zuzulassen, steht unerschütterlich fest. Jede Bewegung des Kindes erinnert sie an ihren schrecklichen Entschluß. Am Vormittag des 6. April 1968 kündigt sich der Höhepunkt des Verhängnisses an: Mitten im Unterricht in der Berufsschule bemerkt Ulla einen kurz anschwellenden Krampf in ihrem Leib, der zwar nur kurz andauert, sich aber nach einiger Zeit wiederholt. Es sind die ersten untrüglichen Anzeichen der nahen Geburt. Ulla verläßt mit der Begründung, einen Arzt aufsuchen zu müssen, vorzeitig den Unterricht. Doch sie eilt nach Hause, wohl wissend, daß sie dort ungestört ist. Ihre Eltern waren zufällig am frühen Morgen zum Einkauf nach Karl-Marx-Stadt gefahren und beabsichtigten, erst am Abend heimzukehren.
Nach und nach wiederholen sich die Leibeskrämpfe in immer kürzeren Zeitabständen. Sie nehmen an Stärke zu. Ulla Söllner vermutet richtig, daß dies die Wehen sind und ist sich nun der bevorstehenden Geburt gewiß. In ihrer Seele bricht das Chaos aus. Verzweifelt läuft sie im Hause umher. Sie kann sich nicht entscheiden, wo die Geburt stattfinden soll. Am liebsten würde sie sich ins Bett legen und dort die Geburt abwarten. Eine unbeschreibliche Furcht, sich dem Anblick des Kindes dann stellen zu müssen, breitet sich in ihr aus. Nein! Nein, das will sie nicht! Dieses Kind darf nicht leben! Und sie verdrängt jeden Gedanken, der ihren Tötungswillen schwächen könnte.
Kurze Zeit später treten die Wehen bereits in Abständen von Minuten auf. Die Schmerzen sind heftig und der Druck im Unterleib nimmt zu. Inzwischen hat Ulla, wie sie glaubt, den geeigneten Ort gefunden, um die Geburt und die Tötung zu vollenden. Sie schleppt sich mühsam über den Hof zum alten Abort, einem Plumpsklo aus vergangenen Jahren, hinter dem sich die große Jauchegrube befindet. Den ätzenden Geruch aus Chlorkalk und Ammoniak nimmt sie kaum wahr. Mit entblößtem Unterkörper setzt sie sich auf die kreisrunde Öffnung. Bald fühlt sie den gewaltigen Druck, mit dem das neue Leben sich seinen Weg nach draußen bahnt, obwohl sie sich dagegen zu wehren versucht. Ihr Widerstand wird immer schwächer, bis sie, ohne es zu wollen, wie automatisch durch aktives Pressen den Geburtsvorgang unterstützt. Bald fühlt sie den Kopf ihres Kindes, dann dessen Schultern. Mühelos gleitet der restliche Körper aus dem ihren. Mit beiden Händen hält sie die Nabelschnur fest und durchtrennt sie mit den Fingernägeln. Ohne den befreienden Schrei, der das selbständige Atmen einleitet, stürzt das Neugeborene in die Tiefe. Es liegt noch eine Zeitlang auf der Oberfläche der Jauche, ehe es langsam und lautlos versinkt. Erst später, im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen, erfährt sie, daß sie ein Mädchen geboren hatte.
Kraftlos verharrt sie, bis erneute Wehen den Ausstoß der Plazenta ankündigen. Als auch dies vorüber ist, fühlt sie sich matt und müde. Erst nach einer Weile kann sie den Abort verlassen. Mit großer Mühe überquert sie den Hof, geht ins Haus und erklimmt die steile Treppe, die zu ihrem Zimmer führt. Mit letzter Kraft sinkt sie in ihr Bett und verfällt in einen tiefen Schlaf.
In den frühen Morgenstunden des 7. April 1968 wird Ulla Söllner durch heftige Schmerzen im Unterleib aus dem Schlaf gerissen. Ihr ist hundeelend. Starke Blutungen haben die Bettwäsche verschmutzt. Ulla richtet sich langsam auf, kämpft gegen das nahende Schwindelgefühl, das ihr die Sinne zu rauben scheint. Vorsichtig wankt sie zur Tür, das Blut rinnt unaufhörlich an ihren Beinen herunter. Sie öffnet die Tür ihres Zimmers, hört, wie die Mutter in der Küche hantiert. Mit letzter Kraft ruft sie verzweifelt: „Mama! Schnell, hilf mir!“
Entsetzt eilt die Mutter die Treppe hinauf. Vor ihr steht das Jammerbild ihrer Tochter.
„Um Himmels Willen, was ist passiert?“
„Gestern Abend – ich, ich hatte eine Fehlgeburt“, stammelt Ulla schwach.
„Kind, du hast ja so viel Blut verloren!“
Eilig wechselt die Mutter die Wäsche, reinigt Ullas Körper vom Blut. Dann bugsiert sie ihre Tochter zurück ins Bett: „Bleib liegen, ich fahre zur Gemeindeschwester. Du brauchst Hilfe!“ Die Gemeindeschwester
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