Ekel / Leichensache Kollbeck
Sie glaubt vielmehr, sich zu irren und redet sich mit suggestiver Eindringlichkeit ein, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Letztlich geht jeder aufkeimende Gedanke an eine mögliche Schwangerschaft in den festen Entschluß zu einer Abtreibung über. Sie beruhigt ihre aufgewühlte Seele mit dem naiven Optimismus, daß sich schon irgendeine Lösung finden wird.
Einen knappen Monat später feiert Ulla mit ihrem neuen Freund, dem 19jährigen Konrad Bauerfeind, der in Lohndorf, einem Nachbarort, als Traktorist arbeitet, Verlobung und stellt ihn ihren Eltern vor. Verdutzt nehmen sie die Mitteilung zur Kenntnis. Doch der junge Mann macht einen guten Eindruck auf sie. Deshalb glauben sie, daß diese Beziehung sich positiv auf die weitere Entwicklung ihrer Tochter auswirken wird. Daß Ulla bereits ein keimendes Leben in sich trägt, denn ihre Regelblutung ist auch in diesem Monat ausgeblieben, darüber wahrt das Mädchen strenges Stillschweigen. Konrad darf es nicht erfahren. Er würde sie sonst auf der Stelle verlassen. Nein, sie will ihn nicht verlieren. Ihre Zuneigung zu ihm ist durchaus ehrlich. Immer noch sucht sie nach einem Ausweg, das drohende Unheil abzuwenden. Zusätzlich belastet sie der Gedanke, nicht genau zu wissen, wer von den früheren Freunden der Vater ist.
Der Monat Oktober vergeht wie im Flug. Ihre Gefühle pendeln zwischen Glückseligkeit, wenn sie mit Konrad zusammen ist, und immer größer werdender Angst, ihr Körper könne bald der Verräter des fatalen Geheimnisses sein.
Wenn sie allein in ihrem Zimmer ist und die Eltern schlafen, trinkt sie heißen Rotwein, bis ihr flau im Kopf wird, springt etliche Male von einer alten Truhe, staucht bei jedem Sprung ihren Körper auf die harten Holzdielen und schnürt ihren Leib mit elastischen Binden. Diese Prozeduren dienen nur dem einen Ziel: die ersehnte Blutung zu provozieren, die sie von der unheimlichen Last befreien könnte.
Doch das alles sind Versuche mit untauglichen Mitteln.
Vor dem Einschlafen grübelt sie lange Zeit über eine Lösung nach.
Anfang November, so rechnet sie, ist bereits der vierte Schwangerschaftsmonat erreicht. Der reguläre Geburtstermin müßte also in der zweiten Aprilhälfte, spätestens in den ersten Maitagen des nächsten Jahres liegen. Auf keinen Fall will sie das Kind haben. Deshalb will sie es heimlich gebären und töten. Sie weiß, daß dies zwar ein Verbrechen ist, vertraut aber ihrem Geschick, sich nicht zu verraten. Da die Zunahme des Leibesumfangs künftig nicht zu verbergen sein würde, schließt sie diese Tatsache in ihre Überlegungen ein.
Wenige Tage später teilt Ulla mit gespielter Freude einer Klassenkameradin mit, daß sie im zweiten Monat schwanger sei und vermutlich Ende Juni nächsten Jahres entbinden werde. Logischer Weise hält die Freundin Konrad Bierfreund für den künftigen Vater, was Ulla beabsichtigt. Der Plan scheint aufzugehen, ihre Erklärungen wirken glaubhaft. Am gleichen Abend teilt sie das angeblich freudige Ereignis ihren erstaunten Eltern mit. Sie wirkt dabei gelöst und freundlich. Auch Konrad Bierfreund nimmt die Mitteilung ziemlich gelassen auf. Zwar hält sich seine Freude in Grenzen, doch findet er sich schnell mit der neuen Situation zurecht. Er hat nicht den geringsten Zweifel, daß er der Vater des werdenden Kindes ist.
Ulla Söllner hat mit dieser Täuschung die erste große Hürde auf dem Weg zur Lösung ihres Problems erfolgreich überwunden. Nun konzentriert sie sich lediglich darauf, daß die Geburt unbemerkt erfolgen und das Kind irgendwie getötet werden muß. Dann kann sie vorgeben, sie habe im siebten Monat eine Fehlgeburt gehabt. Niemand wird dann die Wahrheit erfahren.
Rührend und voller Sorge kümmert sich Konrad Bierfreund um seine junge Braut. Zukunftspläne werden geschmiedet. Vater Söllner schlägt vor, das Dachgeschoß auszubauen, um der neuen Familie ein eigenes Zuhause zu sichern. Auch die Mutter sichert zu, sich um das Gedeihen des künftigen Enkels zu kümmern, damit Ulla sorgenfrei die Lehrzeit übersteht. Äußerlich angepaßt läßt Ulla der Entwicklung freien Lauf. In der Tiefe ihrer Seele aber breitet sich die Weigerung, das in ihrem Leib entstehende Leben anzunehmen, immer weiter aus. Haß und Abscheu sind die eigentlichen Triebkräfte, die ihre Gedankenwelt steuern: Das Kind muß weg!
Im Dezember 1967 – Ullas Leibesumfang hat inzwischen merklich zugenommen – fragen die Eltern nach, ob sie sich, wie es ihre gesetzliche Pflicht ist,
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