Ekel / Leichensache Kollbeck
erkennen. Die eingetrockneten Nabelschnurreste sind sicheres Zeichen für eine zeitlich nur kurz zurückliegende Geburt.
Der Leichnam wird zur Autopsie in das Jenaer Institut für gerichtliche Medizin und Kriminalistik gebracht. Unterdessen rekonstruiert der Deponiemeister die Routen der fraglichen Fahrzeuge, die das tote Neugeborene transportiert haben könnten. Seine Schlußfolgerung, der kleine Leichnam sei mit dem Haushaltsmüll aus dem Norden von Arnstadt auf die Kippe geraten, ist ein erster wichtiger Ansatz für die polizeilichen Ermittlungen.
Auch die Sektion führt zu bedeutsamen Ergebnissen: Es ist die Leiche eines 49 Zentimeter großen, reifen Neugeborenen weiblichen Geschlechts, 3 100 Gramm schwer. Obwohl die Verwesung, durch die sommerlichen Temperaturen beschleunigt, in vollem Gange ist, läßt sich die Todeszeit recht gut schätzen. Sie dürfte nur wenige Tage zurück liegen. Außerdem finden sich Zeichen der Erstickung, die auf einen Tod durch gewaltsamen Verschluß der Atemöffnungen schließen lassen. Die mikroskopische Untersuchung der Nabelschnur ergibt Hinweise auf ein Durchtrennen durch bloßes Zerreißen. Die Reste des Mekoniums – dem während der Entwicklung in der Gebärmutter gebildeten Stuhl des Kindes, dessen Entleerung aus dem Körper üblicher Weise unmittelbar nach der Geburt erfolgt, lassen den Schluß zu, daß Geburts- und Todeszeit sehr nahe beieinander liegen.
Auch die Untersuchung des Mittelohrs, des Lungengewebes und des Magen-Darm-Traktes, deren Befunde wichtige Aufschlüsse darüber geben, ob das Kind lebend geboren wurde, bestätigen die Vermutung, daß es zumindest für eine kurze Zeit selbständig geatmet hat. Deshalb kann eine Totgeburt sicher ausgeschlossen werden. Alle diese Umstände begründen den dringenden Verdacht einer Kindestötung. Ein Ermittlungsverfahren gegen „Unbekannt“ wird eingeleitet.
Die nächsten Tage der Kriminalisten sind mit Ermittlungen im Kreiskrankenhaus, bei den Schwangerenberatungsstellen und Frauenärzten ausgefüllt. Dabei geht es vorrangig darum, welche Frauen in den letzten Tagen wegen einer vermeintlichen Fehl- oder Totgeburt ärztlich behandelt werden mußten. Zu den kriminalistischen Spitzfindigkeiten gehört es aber auch, zu erkunden, welche Schwangere sich vermutlich nicht, wie allenthalben üblich, auf die bevorstehende Geburt vorbereitet haben könnte.
Doch, selbst wenn derartige Umstände im Umfeld einer Verdächtigen bekannt sind und auch der Kriminalpolizei mitgeteilt werden, hängt der Erfolg der weiteren Ermittlungen von einer exakten, objektiven Beweisführung ab. Falls eine Schwangere nämlich ihren Zustand gänzlich zu verheimlichen versteht und deshalb in der Beratungsstelle nicht erfaßt ist, laufen solche Recherchen bereits von vornherein ins Leere.
Deshalb veröffentlicht die Tagespresse in Arnstadt bereits in der Wochenendausgabe vom 17. Juli 1971 eine kurze Notiz der VP über den Fund des Neugeborenen auf der Mülldeponie und appelliert an die Bereitschaft der Bevölkerung, der Polizei verdächtige Wahrnehmungen mitzuteilen.
Daraufhin gehen in den nächsten Tagen vielzählige Hinweise bei der MUK ein, die einer Prüfung bedürfen. Erfahrungsgemäß ist dies mit schwierigen und mitunter auch langwierigen Ermittlungen verbunden, weil derartige Hinweise meist auf Gerüchten beruhen, die hinter vorgehaltener Hand in der Bevölkerung kursieren. Die Fragen zu beantworten, worin ihr objektiver Gehalt besteht und wo ihre Quellen zu finden sind, erfordert besondere Ausdauer und Exaktheit.
Die Kriminalisten haben gelernt, daß ein solch mühseliges Vorgehen bei Kindestötungen erforderlich ist. Sie können zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, daß der „Kommissar Zufall“ – ein höchst unzuverlässiger und seltener Geselle der Untersuchungspraxis – wenige Tage später überraschend in die Ermittlungen eingreifen wird.
Am Nachmittag des 23. Juli 1971 betritt die 30jährige Programmierassistentin Birgit Werner die Praxisräume des Arnstadter Frauenarztes Dr. Glowatzki. Unschlüssig und gehemmt bleibt die kleine, kräftige, dennoch zerbrechlich wirkende Gestalt an der Eingangstür stehen, bis die Sprechstundenhilfe sie anspricht: „Na, Frau Werner, nicht so zaghaft, nur herein! Was fehlt Ihnen denn?“
„Ich muß unbedingt zum Doktor, heute noch“, flüstert diese, „ich habe akute Unterleibschmerzen.“
Die Dame im weißen Kittel nickt und überlegt kurz, macht wortlos eine fordernde Handbewegung. Birgit Werner
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