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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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deutet diese Geste richtig und übergibt ihren SV-Ausweis.
    „Es dauert aber ein Weilchen, nehmen Sie inzwischen Platz“, beruhigt sie die Schwester und weist auf das Wartezimmer. Dann beendet sie den Dialog: „Ich suche erst Ihre Patientenkartei heraus!“
    Zaghaft betritt Birgit Werner das Wartezimmer. Dort sitzen bereits einige Patientinnen. Sie hat das Gefühl, daß neugierige Augen sie zu mustern versuchen. Um sich ihnen zu entziehen, nimmt sie direkt am Fenster Platz und starrt mit leerem Blick in die Ferne. Sie wirkt wie geistesabwesend. Doch sie konzentriert ihre Gedanken auf einen vor zwei Tagen gefaßten, folgenschweren Entschluß, sich Dr. Glowatzki mit einem schwerwiegenden Problem anzuvertrauen. Sie kämpft aber auch gegen die inneren Kräfte, aus Bequemlichkeit und Feigheit den Konsequenzen am liebsten ausweichen zu wollen. Die Leibschmerzen und die ungestümen Blutungen der letzten Tage erscheinen ihr eher als Nebensächlichkeit.
    Dieser Arzt, der ihr Vater sein könnte und dessen Tüchtigkeit und behutsamer Umgang mit den Patientinnen sie schon immer beeindruckte, ist der einzige Mensch in diesen Tagen, der ihr ganzes Vertrauen genießt. Er betreut sie schon seit der Zeit, als sie mit ihren Söhnen, dem inzwischen fünfjährigen Sven und dem dreijährigen Matthias schwanger war. Nur er soll sie untersuchen, nur ihm kann sie erklären, wie sich die Ereignisse des letzten Jahres so unheilvoll entwickelt haben und wie die Verzweiflung ihr die Sinne nahm.
    Birgit Werner weiß sehr wohl, daß am Ende dieses Arztbesuches ihr Leben eine weitere jähe Wendung erfahren wird. Doch sie will endlich einen Schlußstrich ziehen unter die dramatischen Vorgänge, die sich ihr einst so sanft und lustvoll näherten, ehe sie sich derart in ihnen verstrickte, daß sie keinen Ausweg mehr zu finden glaubte.
    Vor einer knappen Woche, als sie die Notiz in der Zeitung über den Fund eines Neugeborenen auf der Müllkippe in Schrecken versetzte, empfand sie das erste Mal die Unmöglichkeit, das Geschehen für immer zu verheimlichen. Und ihr Gewissen trieb sie zu dem Entschluß, sich das Leben zu nehmen. Denn das tote Neugeborene auf der Müllkippe ist ihr Kind. Jetzt, wo sie den Gedanken an den eigenen Tod wieder verdrängt hat und die Schmerzen in ihrem Leib die Erinnerung an alles wachhalten, was ihre Seele belastet, will sie sich dem Schicksal stellen. Nur so, glaubt sie, bleibt ihr ein wenig Hoffnung auf eine neue, lebenswerte Zukunft.
    Auf der Suche nach Gründen für ihr schmähliches Versagen ziehen ihre Gedanken bis in die unbeschwerte Kindheit zurück. Nachträglich empfindet sie das ständige, häufig übertriebene Umsorgt- und Behütetsein, mit dem die Mutter vermeintliche Belastungen, Sorgen und Schwierigkeiten von ihr fernhielt, als eine Last. Sie lernte es nicht, Entscheidungen selbständig zu treffen und eigene Verantwortung zu übernehmen. So blieb es über die gesamte Schulzeit hinweg bis zum Abitur.
    Ihre guten Noten waren weniger das Ergebnis beharrlichen, zielstrebigen Lernens, sondern mehr natürlicher Intelligenz und Auffassungsgabe geschuldet, die ihr auch einen erfolgreichen Studienabschluß als Ingenieurökonom sicherten. Allerdings in praktischen Fragen des täglichen Lebens blieb sie vielfach eine Versagerin.
    In der Studienzeit lernte sie Knut kennen, der ein Studienjahr über ihr war. Sein praktischer Sinn und die Organisiertheit, mit der er sein Leben gestaltete, beeindruckten sie sehr. Schon beim Kennenlernen verliebte sie sich so heftig, daß sie sich ihm auf ewig verfallen fühlte. Nun ist sie schon sechs Jahre mit ihm verheiratet. Beide sind stolze Eltern zweier prächtiger kleiner Söhne. Auch finanziell geht es der Familie verhältnismäßig gut. Und selbst, wenn die Kasse wirklich mal etwas knapp wird, ist ihre Mutter sofort zur Stelle und hilft.
    Knut ist auch zu Hause ein perfekter Ökonom. Er verwaltet das Geld, plant den Haushalt, die Freizeit der Kinder, den Urlaub und die Erziehung. Birgit hat sich ihm total untergeordnet. Ihre Untertanenrolle nimmt sie gar nicht wahr, fühlt sich als die ausführende Kraft dessen, was er bestimmt. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst ist, muß sie bekennen, daß ihr eine effektive Organisation des Haushalts gar nicht liegt. Sie würde versagen, wenn Knut nicht wäre. Solcherart Verantwortung zu tragen, vermochte sie noch nie. Mit den Aufgaben als Programmierassistentin fühlt sie sich bereits ausgelastet. Sie empfindet sich als zurückhaltend

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