El Camino Amable
Unterkunft reservieren und das erste Bier bestellen. Leider müssen sie jetzt aber feststellen, dass es in diesem kleinen Flecken wirklich gar nichts zu kaufen gibt. Da wird es nichts mit dem abendlichen Bier, fürchten sie. Doch dann fällt Micha ein, dass sie vor einer Weile unterwegs an einem Getränkeautomaten vorbeigekommen sind. Mit etwas Glück, meint er, ist das Humpeltempo von Max so langsam, dass er den Automaten noch nicht passiert hat und noch einige Biere mitbringen kann. Sie rufen ihn kurzentschlossen auf dem Handy an und geben ihren Getränkewunsch in Auftrag. Und es gibt tatsächlich noch echte Freundschaft unter den Menschen: Eine Stunde später humpelt der arme Max, nun zusätzlich beschwert mit drei Kilo Bier im Rucksack auf unsere Veranda, wo er von seinen Freunden sehnsüchtig erwartet wird.
Nun sind wir sieben Leute auf der Terrasse und es ist wirklich überschaubar und ganz gemütlich, in der Herberge der alten Dorfschule zu sitzen. Über uns wachsen Glyzinien und Wein als Schattenspender und die Trauben hängen schwer über unseren Köpfen. Es herrscht sonntägliche Stille.
Die Hostaleria ist eine ältere Frau, die auf dem Hof gegenüber lebt und sich nebenbei um die Herberge kümmert. Sie bietet uns an, in einem Restaurant anzurufen, damit man uns irgendwann zum Essen abholt, denn in diesem Dörfchen gibt es absolut nichts zu kaufen oder zu essen. Alles klappt wunderbar. Wir werden von einem netten jungen Mann abgeholt und ins nächste Dorf gefahren. Inzwischen sind noch einige Pilger angekommen, sodass er zweimal fahren muss. Im Restaurant angekommen bereitet der Fahrer, der gleichzeitig auch Kellner, Koch, Besitzer und junger Vater ist, fantastische Menüs zu, serviert sie in aller Fröhlichkeit und gibt sich dabei noch mit seiner kleinen Tochter ab. Wir bilden eine laute Tischrunde mit viel Gelächter. Alles, was gesagt wird, muss in mindestens zwei Sprachen übersetzt werden, damit alle am Gespräch teilhaben können — und Japanisch ist noch nicht einmal dabei, denn zum Glück kann Nicolas aus Japan genügend Englisch. Der Fahrer-Koch-Wirt schenkt uns noch jedem eine Jakobsmuschel und gibt uns Tipps für den Weg, bevor er uns - gratis! — wieder zur Albergue fährt. „Jeder Tag auf dem Camino hält eine wunderbare Überraschung bereit“, hatte Philippe gestern gesagt. So ist es an diesem Tag auch wieder gewesen.
24. Tag
Casanova—Pedrouzo
Heute bin ich erst um 7 Uhr gestartet. Bis Arzúa - meinem nächsten Etappenziel - sind es nur 25 Kilometer, das ist kein Problem, da muss ich nicht im Dunkeln los. Der Weg ist breit und gut zu gehen, es gibt keine außergewöhnlichen Steigungen oder Abstiege, allerdings ist es recht kühl. Kurz vor Melide im Gewerbegebiet treffe ich Maria wieder. Ich weiß gar nicht mehr, wann wir uns zuletzt gesehen haben. Sofort fragen und erzählen wir von diesen und jenen gemeinsamen Bekannten, tauschen Neuigkeiten aus und können dann auch schweigend miteinander laufen. In Melide setze ich mich in das erste „Restaurant“, während Maria vor dem Frühstück noch ein wenig weiterlaufen will. Ich habe Hunger, auch wenn ich noch keine eineinhalb Stunden gelaufen bin; aber meine Hunger-Erfahrungen der letzten Tage lassen mich den weisen Entschluss fassen, lieber jetzt als womöglich gar nicht zu essen. Als ich das Schild „Restaurante“ über einer „Höhle“ am Weg sehe und die fröhliche, keltisch anmutende Musik höre, werde ich neugierig. Über einem einfachen Anbau an einem Holzhaus am Wege hat der Besitzer eine Plane gespannt und große Schilder aufgehängt, die auf sein „Restaurant“ hinweisen. Er gibt sich wirklich redlich Mühe, auf sein gastronomisches Highlight aufmerksam zu machen, und so gehe ich zwischen den rohen Holzbänken und Tischen hindurch zum Tresen. Es duftet nach frischer Kartoffel-Tortilla „home-made“. Also stelle ich mich an den Tresen und schaue erst einmal eine ganze Weile dem Wirt zu, der in aller Ruhe die Bestellungen abwickelt. Und wenn jemand Café con leche bestellt, dann ist das fast eine Zeremonie, den Kaffeefilter mit rituellen Handbewegungen auszuklopfen, den Kaffee zu mahlen, zu brühen, Milch aufzuschäumen, vorsichtig dazuzugießen... Jeder Kaffee wird einzeln zubereitet und jede Handbewegung zeugt von ungezählten auf dieselbe Weise durchgeführten Handgriffen vorher. Ein konzentriert zelebriertes Ritual.
Ich bestelle zum Frühstück also natürlich Tortilla und Café con leche, das muss einfach sein.
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