El Camino Amable
Dazu bekomme ich ein dickes Stück Brot frisch vom Laib geschnitten mit einem freundlichen „Buen Provecho“ auf den Teller gelegt. Ich setze mich so, dass ich nach draußen schauen kann, um ab und zu einigen Bekannten zuzuwinken, die vorübergehen. Anschließend mache ich mich selber auch wieder in aller Ruhe auf den Weg. Ich habe ja Zeit - es sind nur 25 Kilometer und gegen Mittag müsste ich in Arzúa sein. Das bin ich dann auch. Um 12 Uhr habe ich die Albergue in Arzúa gefunden. Zu meinem Entsetzen steht jedoch eine lange Schlange von Rucksäcken davor, deren Besitzer haben sich derweil auf die umliegenden Bodegas verteilt. Ich weiß, dass diese Albergue 46 Betten und 17 Matratzen hat...
Also stelle ich meinen Rucksack in die Reihe und setze mich einen Augenblick auf den Bordstein. Eine Frau kommt aus einem Haus und bittet darum, ein paar Rucksäcke zur Seite zu nehmen, weil sie sonst mit dem Auto nicht aus der Garage kommt. Ich werde allmählich skeptisch, ob mein Rucksack sich wirklich unter den ersten 63 befindet. Also fange ich an zu zählen. 61 Rucksäcke sind vor meinem, darunter 17 von einer Pfadfindergruppe. Einer aus der Truppe zeigt noch auf einige Rucksäcke auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Waren die wirklich auch schon vor mir da? Es ist erst 12 Uhr, die Herberge öffnet um 13 Uhr. Wenn ich es darauf ankommen lasse und warte, um dann vielleicht doch keinen Platz zu bekommen, komme ich in der nächsten Herberge auch erst eine Stunde später an. Zu spät vielleicht!
Kurz entschlossen nehme ich meinen Rucksack, kaufe noch zwei Stück Kuchen (man weiß ja nie...), die ich im Gehen esse und mache mich auf. Zur nächsten Herberge sind es laut Wanderführer noch 17,5 Kilometer, was mir eigentlich zu viel für heute ist. Aber erfahrungsgemäß gibt es am Camino auch viele neue private Herbergen, die noch gar nicht im Wanderführer stehen, sodass ich eventuell auch schon vorher eine Bleibe finde. Ich laufe also wieder los. Der Weg führt durch schöne Waldstücke, es ist relativ „kühl“ - gutes Laufwetter. In den nächsten drei Dörfern gibt es keine Herberge. Keine einzige. Noch sieben Kilometer bis Santa Irene. Ich denke daran, dass es oftmals vor den städtischen Albergues oder Refugios mehrere private Herbergen gibt, die durch Zettelchen auf sich aufmerksam machen. Aber hier ist nichts dergleichen. Ich mache keine Pause, fülle nur von Zeit zu Zeit meine Wasserflasche auf — und überhole diverse Pilger. Trotz meines freundlichen „Buen Camino“ sehe ich langsam aber sicher in ihnen Rivalen im Kampf um ein Bett. Kurz nach 16 Uhr bin ich in Santa Irene. 17,5 Kilometer in gut drei Stunden ist wirklich eine gute Zeit! Die erste Albergue in Santa Irene ist privat geführt und auch von der gegenüberliegenden Straßenseite kann ich das Schild „Completo“ gut erkennen. Ich werde zunehmend besorgter.
44 Kilometer am Tag sind mir wirklich genug. Ich will ein Bett und Schluss! Erleichtert sehe ich in der städtischen Herberge noch eine kleine Schlange vor der Rezeption. Das Mädel am Tresen füllt zügig Unterlagen aus und stempelt Pilgerpässe. Ich hole meinen aus dem Rucksack. Uff, das wäre geschafft!
Genau einen Pilger vor mir hört sie auf zu stempeln, schaut uns bedauernd an und sagt das folgenschwere Wort „Completo“. Entgeistert schaue ich sie an — ich bin so weit vorne, habe sogar schon Blickkontakt, da kann sie doch nicht so einfach dichtmachen! „Una?“, sage ich — einen Versuch ist es wert. Sie schüttelt den Kopf: „Full!“ Ich packe schnell den Pilgerpass ein, drehe mich um und marschiere sofort weiter, bevor sich die Nachricht bis zum hinteren Teil der Schlange durchgesprochen hat. Zügig überhole ich im nächsten Wäldchen einige Pilgergruppen. Oh, diese Gruppen! Die nächste Herberge ist drei Kilometer entfernt und hat immerhin 120 Liegen. Das muss jetzt einfach klappen — mir reicht’s für heute! Also gehe ich zügig weiter bis ins übernächste Dorf Pedrouzo. Der Weg führt mal wieder einen Berg hoch und es wird langsam anstrengend. In der Herberge von Pedrouzo sitzt wieder eine freundliche Dame am Tresen. Ich baue einen festen Blickkontakt auf, greife nach meinem Pilgerpass und höre dann: „Completo.“
„No!“
„Sí.“
„No!“
„Sí, completo!“ Ich bedeute ihr mit Händen und Füßen, dass ich ganz anspruchslos sei. Ein Platz auf dem Fußboden oder im Garten würde mir ja reichen. Doch sie zeigt mir einen Zettel, auf dem in allen
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