Elefantengedaechtnis
unten, in der tiefsten Tiefe.
Neben der Schielenden las ein alter Herr in Erwartung des
Mittagessens Reader’s Digest: Ich bin der Hoden von João. Wozu brauchte ein Kerl mit sechzig Jahren Hoden?
– Ich bin ganz unten, in der tiefsten Tiefe angelangt, und ich bin nicht sicher, ob ich aus den Algen, zwischen denen ich mich befinde, wieder herauskomme. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen Ausweg für mich gibt, verstehst du? Manchmal habe ich die Kranken reden hören und darüber nachgedacht, wie dieser Kerl oder diese Frau sich in den Brunnen stürzten, sah aber keine Möglichkeit, sie da wieder herauszuholen, weil mein Arm zu kurz war. So, wie wenn sie uns als Studenten die Krebskranken auf den Stationen zeigten, die mit der Nabelschnur des Morphiums an der Welt festgemacht waren. Ich dachte an die Angst dieses Kerls oder dieser Frau, holte aus meinem Entsetzen Arzneien und tröstende Worte hervor, hatte aber niemals gedacht, daß ich eines Tages mit zur Truppe gehören würde, denn ich, verdammte Scheiße, hatte Kraft. Ich hatte Kraft: hatte eine Frau, hatte Töchter, das Projekt, zu schreiben, konkrete Dinge, Rettungsringe, die mich an der Oberfläche hielten. Wenn die Angst mich ein wenig piekte, nachts, du kennst das ja, ging ich in das Zimmer der Mädchen, in diese Unordnung kindlichen Plunders, sah sie schlafen und beruhigte mich wieder: Ich fühlte mich gestützt, o ja, gestützt und gerettet. Und plötzlich hat sich mein Leben auf den Kopf gestellt, Scheiße, und sieh mich an, da liege ich Küchenschabe auf dem Rücken und strample mit den Beinen, da gibt es keine Stütze mehr. Wir, verstehst du, ich meine mich und sie, wir mochten einander sehr, wir mögen einander immer noch sehr, und das Verfluchte an all der Scheiße ist, daß ich es nicht schaffe, mich wieder einzukriegen, sie anzurufen und ihr zu sagen, Laß uns kämpfen, weil ich womöglich die Lust am
Kämpfen verloren habe, meine Arme bewegen sich nicht, die Stimme sagt nichts, die Sehnen am Hals halten den Kopf nicht mehr. Und letztlich will ich nur das. Ich glaube, wir beide haben versagt, weil wir nicht zu verzeihen wußten, weil wir uns nicht ganz angenommen fühlten, und in der Zwischenzeit, im Verletzen und Verletztwerden, wächst und widersteht unsere Liebe (es tut gut, das zu sagen: unsere Liebe), und kein Hauch konnte sie bis heute zum Erlöschen bringen. Es ist so, als könnte ich sie nur fern von ihr so ganz und gar lieben, verdammt, sie von nahem zu lieben, Körper an Körper, war, seit wir uns kennengelernt haben, unser Kampf. Ihr das geben, was ich ihr bis heute nicht zu geben wußte und was in mir ist, eingefroren, aber immer noch atmend, ein winziger, verborgener Samen, der wartet. Was ich von Beginn an geben wollte, ihr geben will, die Zärtlichkeit, verstehst du, ohne Egoismus, den Alltag ohne Routine, die absolute Hingabe eines geteilten Lebens, ganz und gar, warm und einfach wie ein Küken auf der Hand, das kleine, verschreckte, zitternde Tier unseres Lebens.
Er schwieg mit einem Kloß in der Kehle, während der Herr mit dem Reader’s Digest, nachdem er eine Seite mit einem Knick versehen hatte, bevor er die Zeitschrift zuschlug, den Inhalt eines Zuckerpäckchens mit vorsichtigem Fingerschnippen in den Ikterus des Zitronentees schüttete. Die fette Dame hatte das Eis endgültig besiegt und ließ, satt wie eine Boa, den Kopf leicht nach vorn fallen. Drei junge kurzsichtige Leute hielten über den jeweiligen Beefsteaks eine Konferenz ab, während sie von der Seite eine einsame Blonde anschauten, die, das Messer in der Luft wie ein Storch sein Bein im Innehalten, nicht entschlüsselbaren Meditationen nachhing.
– Keiner von euch beiden wird jemanden wie den anderen
finden, sagte der Freund, indem er den leeren Teller mit dem Handrücken wegschob, keiner von euch beiden wird jemanden finden, der so für den anderen gemacht ist, so mit dem anderen übereinstimmt, aber du strafst dich und strafst dich immer wieder mit dem Schuldgefühl eines Alkoholikers, bist in diese idiotische Wohnung in Estoril gezogen, bist verschwunden, niemand sieht dich mehr, du hast dich in Luft aufgelöst. Ich warte immer noch auf dich, damit wir diese Arbeit über das Acting-out zu Ende schreiben.
– Mir sind die Gedanken ausgegangen, sagte der Arzt.
– Dir ist alles ausgegangen, entgegnete der Freund. Warum rennst du nicht endlich mit den Hörnern gegen die Wand?
Dem Psychiater fiel ein Satz seiner Frau wieder ein, den sie
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