Elefantengedaechtnis
er, auf der Bettkante sitzend, das Buch in der Hand, während der Halsentzündungen des Sohnes die Sonette von Antero de Quental feierlich rezitierte, als führe er ein Initiationsritual durch:
– Sieh zu, daß du aufpaßt und dich wäschst.
Und es war dies das erste Mal, dachte der Arzt, daß er sich körperlich bewußt wurde, daß der Vater einmal jung gewesen war, und sich, während er das magere, ernste Gesicht ansah, das aus Knochen und eindringlichen, leuchtend grauen Augen bestand, der beängstigenden Gewißheit stellte, seinerseits von Metamorphose zu Metamorphose stolpern zu müssen, um zu jenem vollkommenen Insekt zu werden, was ihm jedoch nie gelingen würde. Ich werde es nicht schaffen, ich werde es nicht schaffen, ich werde es nicht schaffen, sagte er immer wieder, als er auf dem Teppich im Arbeitszimmer stand und die Quäkersilhouette des Vaters anstarrte, der aufmerksam über das Papier gebeugt dasaß wie eine Stickerin. Die Zukunft tauchte vor ihm als dunkler, durstiger Abfluß auf, der darauf wartete, seinen Körper in den rostigen Rachen zu saugen, ein Weg, der kopfüber, kopfunter von einem Siel zum anderen hin zum Meer des unheilbaren Alters führte, dessen Ebbe Zähne und Haare einer Hinfälligkeit auf dem Sand zurückließ, die keine Majestät besaß. Das Bild der Mutter lächelte vom Regal her melancholischen Rosenglanz, als würde der Morgen ihrer Fröhlichkeit nur mühsam das blasse Fensterglas der Lippen durchdringen : Auch sie hatte es, zwischen Canasta und Eça de Queiroz schwankend, nicht geschafft und verlor sich, allein in einer Sofaecke, in rätselhaften Meditationen, und möglicherweise
war mit den anderen, dem Rest des Stammes, das gleiche geschehen, waren sie allein, wenn nicht gar einsam, durch die Unendlichkeit der Verzweiflung unabänderlich von den anderen getrennt. Er sah den Großvater auf der Veranda des Hauses in Nelas an jenen Abenden in der Beira wieder, an denen die Dämmerung über dem Gebirge die lila Nebel biblischer Filme ausbreitet, wie er bitter die Kastanienbäume anschaute wie ein Admiral hoch oben auf einem untergehenden Schiff, sah die Großmutter wieder, wie sie das Fieber ihrer nutzlosen Energie, deren Flamme stets brannte, den Flur hinauf- und hinuntertrug, die Verwandten, die der Alltag plastifiziert hatte, die lauwarme Resignation der Besucher, die Stille, die sich unvermittelt über das Geräusch der Gespräche legte und in der sich die Menschen erschrocken bewegten, von Ängsten erfüllt, die nicht zum Ausdruck kamen. Wer schaffte es, fragte sich der Psychiater, während er in der Nähe der Praxis des Zahnarztes nach einem Platz für seinen Wagen suchte und rückwärts bei einem leprösen Kolonialwarenladen einparkte, der mit seinem Reis und seinen Kartoffeln von einem riesigen Supermarkt ermordet wurde, der den schreckensstarren Besuchern vorgekautes amerikanisches Essen anbot, eingewickelt ins Zellophan der Stimme von Andy Williams, die sich aus kenntnisreich verteilten Lautsprechern als verführerischer Atem verflüchtigte, wer schaffte es, von sich aus sich selber das perfekte Profil eines rumänischen Turners zu geben, der reglos in den Ringen hängt und aus den Tarzanachselhöhlen Talkumpuderwolken stäubt. Vielleicht bin ich ja tot, dachte er, ganz sicher bin ich gestorben, damit mir nichts Wichtiges mehr passieren kann, mir nur der Wundbrand den Körper von innen aushöhlt, der Kopf ideenleer ist, und oben, an der Oberfläche, bewegt
sich weich und suchend die Hand des Windes in den Wipfeln der Zypressen, mit einem Rascheln von alten Zeitungsseiten, die zerknüllt werden.
Auf dem Flur der Zahnarztpraxis schwebte unsichtbar im Halbdunkel, beharrlich wie eine Schmeißfliege, das Summen des Bohrers auf der Suche nach dem Zuckerwürfel eines ahnungslosen Backenzahns. Die Angestellte, die mager und blaß war wie eine blutarme Gräfin, reichte ihm von der anderen Seite des Tresens her durchsichtige Finger:
– Geht es Ihnen heute ein kleines bißchen besser, Herr Doktor?
Sie gehörte zu der Sorte Portugiesen, die die Ereignisse im Leben zu einer Gänsehaut verursachenden Folge von Diminutiven machen: In der vorangegangenen Woche hatte der Arzt sich niedergeschmettert den minutiösen Bericht über die Grippe des Sohnes der Angestellten angehört, eines perversen Kindes, dessen Vergnügen darin bestand, mit den Stöpseln der Telefonzentrale zu spielen und dabei die Schmerzensschreie Lissabonner Abszesse nach Boston oder Neapel umzuleiten.
– Ihm
Weitere Kostenlose Bücher