Elefantengedaechtnis
eines postkoitalen Triumphgefühls Rothmann’s-King-Size-Packungen anboten. Er verglich sich im Geiste mit ihnen, und die Erinnerung an die Gestalt, die er hin und wieder unvermittelt in den Spiegeln der Pastelarias sah, mager, zerbrechlich und mit so etwas wie einer unvollendeten Grazie begabt, ließ ihn das millionste Mal mit seiner irdischen Herkunft hadern, die einer ruhmlosen Zukunft entgegensah. Ein ständiger Schmerz wrang seine Kinnlade aus. Er fühlte sich allein und wehrlos angesichts eines unsinnigen Schachspiels, dessen Regeln er nicht kannte. Er brauchte dringend eine Kindergärtnerin, die ihm das Laufen beibrachte und dabei die großzügigen, heißen, vom weichen Stoff eines rosa Büstenhalters zurückgehaltenen Brüste einer römischen Wölfin zu ihm herunterneigte. Niemand wartete irgendwo auf ihn. Niemand kümmerte sich besonders um ihn. Und das Ledersofa wurde zu einem Schiffbrüchigenfloß, das durch die menschenleere Stadt trieb.
Diese schwindelerregende Gewißheit von Leere, die ihn immer häufiger in den Morgenstunden heimsuchte, wenn er sich um sich selbst herum mühsam mit den pastösen und fett gewordenen Gesten eines Entdeckers neu zusammensetzte, der von Sternenreisen zurückkommt und sich mit verschwiemelten Augen auf zwei Meter zerwühltem Bettlaken wiederfindet, löste sich ein wenig auf, als er Schritte auf dem Flur der Praxis näher kommen hörte, die von der Stimme der Blutarmen begrüßt wurden (»Guten Tag, Fräulein Edite, Sie müssen
noch einen kleinen Augenblick im Wartezimmer warten«), und sie drang aus dem Kabuff wie das weinerliche Gebetsgemurmel von jemandem, der aus der Mauerspalte einer Moschee heraus den Koran aufsagt. Als er das Kinn von den durch den spirituellen Weg des heiligen Luís Gonzaga erleuchteten Pygmäen hob, traf er auf ein rotblondes Mädchen, das sich auf dem Zwillingsstuhl zu seinem auf der der Lampe gegenüberliegenden Seite hingesetzt hatte und nach einem ersten prüfenden Seitenblick, der kurz und aufmerksam war wie die Lichtzunge eines Scheinwerfers, die hellen Augen mit dem Wimpernwinken auf ihn richtete, mit dem sich die Turteltauben in die Ellenbogenbeuge der Statuen kuscheln. Im Gebäude auf der anderen Seite der Straße schüttelte eine sehr dicke Frau zwischen Geranien einen Teppich aus, während der Nachbar darüber auf dem Balkon im Unterhemd auf einem Segeltuchhocker die Sportzeitung las. Es war Viertel nach zwei Uhr nachmittags. Das rotblonde Mädchen zog ein Buch der Reihe Vampiro aus der Tasche, in dem als Lesezeichen ein U-Bahn-Ticket steckte, schlug die Beine übereinander wie die beiden Messer einer Schere, und die Kurve ihres Fußrückens ähnelte der der Tänzerinnen von Degas, die, in den Wattedunst der Zärtlichkeit des Malers gewickelt, in Gesten innehielten, die zugleich flüchtig und ewig waren: Es gibt immer Leute, die in Verzückung geraten, wenn Menschen fliegen.
– Hallo, sagte der Arzt in dem Tonfall, mit dem sich Picasso an seine Taube gewandt haben wird.
Die Augenbrauen des rotblonden Mädchens näherten sich einander, bis sie den Zirkumflexakzent eines Kiosks bildeten, den die Platanenzweige loser Haarsträhnen leicht berührten:
– Es begab sich zur Zeit, als die Zahnschmerzen redeten, sagte sie. Sie hatte eine Stimme, die so klang wie wahrscheinlich Marlene Dietrich in ihren Jugendjahren.
– Mir tut kein Zahn weh, weil alle Zähne, die ich benutze, künstlich sind, informierte sie der Arzt. Ich bin hier, um sie gegen Walbarten auszutauschen, damit ich die Fische aus dem Aquarium meiner Patentante besser schlucken kann.
– Ich bin hier, um den Zahnarzt zu ermorden, erklärte das rotblonde Mädchen. Ich habe das Wie gerade von Perry Mason gelernt.
Zu Gymnasiumszeiten hast du sicher die Gleichungen zweiten Grades im Handumdrehen gelöst, dachte der Psychiater, den pragmatische Frauen erschreckten: Sein Bereich war immer der des wirren, wandelnden Traumes gewesen, ohne Logarithmentafeln, die ihn entziffern könnten, und er konnte sich nur mühsam mit dem Gedanken einer geometrischen Lebensordnung anfreunden, in der er sich verloren vorkam wie eine Ameise ohne Kompaß. Daher sein Gefühl, daß er nur in der Vergangenheit existierte und die Tage rückwärts glitten wie auf den alten Uhren, deren Zeiger sich gegenläufig, auf der Suche nach den Verstorbenen der Fotos bewegten, die langsam von der Wiedererweckung der Stunden erhellt wurden. Die Großeltern aus Brasilien reckten ihre gelben Bärte aus den Alben,
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