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Elefantengedaechtnis

Elefantengedaechtnis

Titel: Elefantengedaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: António Lobo Antunes
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und wie er nach dem Abwiegen der vier Bände des Lehrbuchs der Knochen und Muskeln und Gelenke und Nerven und Gefäße und Organe auf der Küchenwaage angesichts der sechs Kilo und achthundert Gramm kompakter Wissenschaft sich selber erklärt hatte:
    – Eher fick ich mich ins Knie, bevor ich diese Scheiße lerne.
    Damals litt er unter der Schaffung eines langen, durch Nabokovs Roman Fahles Feuer inspirierten grottenschlechten Gedichts und glaubte, die weitgefächerte, von der Kontrolliertheit eines T. S. Eliot gemilderte Kraft des Claudel der Großen
Oden zu besitzen: Das Fehlen von Talent ist ein Segen, hatte er feststellen müssen; es fällt einem nur schwer, sich daran zu gewöhnen. Und nachdem er sich als gewöhnlicher Mensch, dem nur hin und wieder der Fasanenflug eines gelegentlichen Gedichts vergönnt war und der keinen auf den Rücken gehefteten Buckel der Unsterblichkeit trug, akzeptiert hatte, fühlte er sich frei, ohne Originalität zu leiden, und brauchte sein Schweigen nicht mehr mit der Mauer melancholischer Intelligenz zu umgeben, die er mit dem Genie verband.
    Der Psychiater umrundete den Jardim das Amoreiras dicht an den Häusern, um den Sonnenduft der Fassaden zu spüren, die Helligkeit, die der Kalk trank wie Früchte das Licht. An einer Wand, an der noch Reste von Plakaten klebten wie Haarsträhnen über einer Glatze, las er mit Kohle geschrieben:
    DAS
VOLK
BEFREITE
DEN GENOSSEN
HENRIQUE TENREIRO
    Und darunter das Zeichen der Anarchisten, ein ironisches, von einem Kreis umschlossenes A. Ein Blinder, der vor ihm ging, klapperte mit dem Stock unentschlossene Kastagnettengeräusche auf den Bürgersteig: Tote Stadt, dachte der Arzt, tote Stadt in einem Sarg aus bemalten Fliesen, wo sie hoffnungslos auf jene warten, die nicht mehr kommen werden: Blinde, Rentner und Witwen und Salazar, der, so Gott will, noch nicht den letzten Atemzug getan hat. Es gab in seinem Krankenhaus einen Kranken, einen sehr ernsten, sehr höflichen Mann aus dem Algarve, Senhor Joaquim, der immer einen weichen Hut
auf dem Kopf trug und einen makellosen Blaumann und in ständiger, direkter Verbindung mit dem ehemaligen Vorsitzenden des Ministerrates stand, den er respektvoll »unseren Herrn Professor« nannte und von dem er geheime Anordnungen zur Führung der Staatsgeschäfte erhielt. Der Mann, der in einem verlorenen kleinen Städtchen auf der Ebene Mitglied der Guarda Republicana war, hatte eines Tages das Jagdgewehr gegen seine Landsleute gerichtet, sie gezwungen, den Anweisungen entsprechend, die ihm unser Herr Professor in die Ohren flüsterte, ein Caxias-Gefängnis zu bauen. Hin und wieder erhielt der Psychiater Briefe, die vom Prior oder vom Leiter der Feuerwehr unterzeichnet waren, die darum baten, diesen schreckenerregenden Emissär eines Gespenstes nicht zu entlassen. Eines Morgens rief der Arzt Senhor Joaquim in sein Sprechzimmer und sagte ihm, was die Krankenpfleger ihm nicht zu sagen wagten:
    – Senhor Joaquim, unser Herr Professor ist vor mehr als zwei Wochen gestorben. Da war sogar ein Foto davon in der Zeitung.
    Senhor Joaquim ging zur Tür, vergewisserte sich, daß niemand sie belauschte, kam wieder herein, beugte sich zum Psychiater herunter und gab ihm flüsternd die Information:
    – Das war alles geschummelt, Herr Doktor. Er hat da einen benutzt, der ihm ähnlich sah, und die Opposition hat das geschluckt: Noch vor einer Viertelstunde hat er mich zum Finanzminister ernannt. Unser Herr Professor steckt sie doch alle in die Tasche.
    Salazar, du Mistkerl, der du niemals aufhörst zu sterben, hatte er damals gedacht, als er am Schreibtisch der Halsstarrigkeit von Senhor Joaquim gegenübersaß: Wie viele Senhor
Joaquins mochten bereit sein, mit verbundenen Augen einem ehemaligen tapsigen Priesterschüler mit der Seele einer Abtshaushälterin zu folgen, der in der Anrichte die Centavos nachzählt ? Im Grunde genommen, überlegte der Arzt, während er um den Jardim das Amoreiras herumging, hat Salazar zwar den Löffel abgegeben, aber aus seinem Bauch sind Hunderte von kleinen Salazars herausgekommen, die sein Werk mit dem phantasielosen Eifer von dummen Schülern fortsetzen, Hunderte von ebenfalls kastrierten, perversen kleinen Salazars, die Zeitungen leiten, Versammlungen organisieren, hinter ihren Dona Marias verschanzt konspirieren, in Brasilien dem Korporativismus laute Loblieder singen. Und das in einem Land, in dem es Nachmittage wie diesen gibt, vollkommen in Farbe und Licht wie ein Bild von Matisse,

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