Elementarteilchen
ausschaltete, schickte er im Internet eine Suchmeldung nach den Versuchsergebnissen los, die im Lauf des Tages veröffentlicht worden waren. Am folgenden Morgen nahm er sie zur Kenntnis und stellte fest, daß die Forschungszentren überall auf der Welt mit sinnlosem Empirismus immer mehr im Dunkeln zu tappen schienen. Kein Ergebnis erlaubte es, irgendeine Schlußfolgerung ins Auge zu fassen oder auch nur irgendeine theoretische Hypothese aufzustellen. Das individuelle Bewußtsein war plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, inmitten von Generationen von Tieren aufgetaucht; es war ohne jeden Zweifel sehr viel früher ent- standen als die Sprache. Die Darwinisten mit ihrem unbewußten Finalismus führten wie immer hypothetische selektive Vorteile an, die mit seinem Aufkommen verbunden seien, und wie immer erklärte das nichts, es war nur eine wohlgemeinte mythische Rekonstruierung; allerdings war das anthropische Prinzip auch kaum überzeugender. Die Welt hatte sich ein Auge gegeben, das fähig war, sie zu betrachten, ein Gehirn, das fähig war, sie zu begreifen; na schön, und nun? Das trug in keiner Weise zum Verständnis des Phänomens bei. Ein Ich-Bewußtsein, das bei den Fadenwürmern nicht vorhanden ist, hatte bei den gemeinen Eidechsen wie etwa der Lacerta agilis nachgewiesen werden können; es setzte sehr wahrscheinlich das Vorhandensein eines Zentralnervensystems voraus und noch irgend etwas anderes. Und dieses Etwas blieb ein absolutes Rätsel; das Aufkommen des Bewußtseins schien sich mit keinem anatomischen, biochemischen oder zellulären Phänomen in Verbindung bringen zu lassen; es war entmutigend.
Was hätte Heisenberg getan? Was hätte Niels Bohr getan? Abstand gewinnen, nachdenken; Spaziergänge auf dem Land unternehmen, Musik hören. Das Neue entsteht nie durch eine einfache Interpolation in das Bestehende; die Informationen fügen sich anderen Informationen hinzu wie kleine Häufchen Sand, deren Wesen im voraus durch den begrifflichen Rahmen definiert ist, der den Versuchsbereich abgrenzt; heute brauchten sie mehr denn je einen neuen Bezugsrahmen.
Die Tage waren heiß und kurz, sie verliefen trübselig. In der Nacht des 15. September hatte Michel einen ungewöhnlich glücklichen Traum. Er befand sich an der Seite eines kleinen Mädchens, das umgeben von Schmetterlingen und Blumen durch den Wald ritt (als er aufwachte, wurde ihm klar, daß dieses Bild nach dreißig Jahren wieder aufgetaucht war und aus dem Vorspann zu »Prince Saphir« stammte, einer Fernsehserie, die er sich jeden Sonntagnachmittag im Haus seiner Großmutter an- gesehen hatte und die ihn mitten ins Herz traf. Im Augenblick danach ging er allein über eine riesige, hügelige Wiese mit hohem Gras. Er konnte den Horizont nicht erkennen, die grasbewachsenen Hügel schienen sich unter einem strahlenden Himmel von schöner hellgrauer Farbe endlos zu wiederholen. Dennoch ging er ohne zu zögern und ohne Eile weiter; er wußte, daß nur wenige Meter unter seinen Füßen ein unterirdischer Fluß floß und daß ihn seine Schritte instinktiv und unweigerlich an diesem Fluß entlangführten. Ringsumher wogte das Gras im Wind.
Als er aufwachte, war er fröhlich und unternehmungslustig wie er es seit Beginn seiner Beurlaubung vor zwei Monaten noch nie gewesen war. Er ging nach draußen, bog in die Avenue Emile-Zola ein und lief unter den Linden entlang. Er war allein, litt aber nicht darunter. An der Ecke der Rue des Entrepreneurs blieb er stehen. Das Geschäft Zolacolor öffnete gerade, die asiatischen Verkäuferinnen setzten sich an die Kassen; es war gegen neun. Zwischen den Hochhäusern des Beaugrenelle-Viertels war der Himmel seltsam hell; all das war ausweglos. Vielleicht hätte er mit seiner Nachbarin von gegenüber, der Redakteurin von 2o Ans, reden sollen. Sie arbeitete für eine viel gelesene Zeitschrift und war über die gesellschaftlichen Ereignisse informiert, sie kannte vermutlich die Mechanismen der Anpassung an die Welt; auch die psychologischen Faktoren dürften ihr nicht unbekannt sein; von dieser jungen Frau konnte er vermutlich viel lernen. Er ging mit großen Schritten zurück, fast im Laufschritt, eilte ohne eine Pause einzulegen die Treppen hinauf, die zur Wohnung seiner Nachbarin führten. Er klingelte dreimal. Niemand meldete sich. Ratlos kehrte er zu seinem Wohnblock zurück; vor dem Aufzug stellte er sich Fragen über sich selbst. War er depressiv, und hatte diese Frage überhaupt einen Sinn? Seit Jahren häuften sich
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