Elementarteilchen
darin eine ungebräuchliche Anwendung der gleichen, jedem Vertrag gegenüber erforderlichen Eigenschaften wie Disziplin oder Respekt zu sehen, die es den Deutschen ermöglicht haben, im Abstand von nur einer Generation zwei ausgesprochen mörderische Kriege zu führen, ehe sie in einem Land, das zu weiten Teilen in Trümmern lag, wieder eine starke, exportfreudige Wirtschaft haben aufbauen können. Es wäre in dieser Hinsicht interessant, die Staatsbürger von Ländern, in denen traditionellerweise die gleichen kulturellen Werte hochgeschätzt werden (Japan, Korea), mit den am Cap d'Agde in die Praxis umgesetzten soziokulturellen Angeboten zu konfrontieren. Diese respektvolle, gesetzestreue Haltung, die jedem, der den Vertrag buchstabengetreu einhält, zahlreiche Augenblicke friedlicher Lust garantiert, scheint auf jeden Fall über ein starkes Überzeugungsvermögen zu verfügen, da sie sich ohne Schwierigkeiten unter den im FKK-Zentrum anwesenden Minderheitselementen (Front-National-Spießern aus dem Languedoc, nordafrikanischen Kriminellen und Italienern aus Rimini) durchsetzt, und noch dazu ohne jede ausdrückliche Regelung.«
An dieser Stelle unterbrach Bruno nach einwöchigem Aufenthalt seinen Artikel. Was noch zu sagen blieb, war zärtlicher, delikater, ungewisser. Sie hatten sich angewöhnt, gegen sieben, nachdem sie den Nachmittag am Strand verbracht hatten, heimzugehen, um einen Aperitif zu trinken. Er nahm einen Campari, Christiane meistens einen weißen Martini. Er verfolgte die Bewegung der Sonnenstrahlen auf dem Verputz, der innen weiß und außen zart rosa getönt war. Es erfüllte ihn mit Freude, wenn er sah, wie Christiane nackt durch die Wohnung ging, um Eiswürfel und Oliven zu holen. Er empfand etwas Seltsames, sehr Seltsames: Er atmete freier, verharrte manchmal mehrere Minuten, ohne an etwas zu denken, und hatte nicht mehr solche Angst. Acht Tage nach ihrer Ankunft sagte er eines Nachmittags zu Christiane: »Ich glaube, ich bin glücklich.« Sie blieb ganz plötzlich stehen und stieß einen tiefen Atemzug aus, während ihre Hand den Eisbehälter umklammerte. Er fuhr fort: »Ich habe Lust, mit dir zusammenzuleben. Ich habe das Gefühl, daß wir lange genug unglücklich gewesen sind, das reicht allmählich. Später wird man dann krank, siecht dahin, und schließlich stirbt man. Aber ich glaube, daß wir gemeinsam bis zum Ende glücklich sein könnten. Auf jeden Fall habe ich Lust, es zu versuchen. Ich glaube, ich liebe dich.«
Christiane begann zu weinen. Später, bei einer großen Platte Meeresfrüchte im N eptune, versuchten sie, sich die Sache in der Praxis auszumalen. Sie konnte jedes Wochenende kommen, das ging ohne Probleme; aber sie würde sicherlich große Schwierigkeiten haben, sich nach Paris versetzen zu lassen. Wegen des Unterhalts, den Bruno zu zahlen hatte, reichte sein Gehalt nicht aus, um beide zu ernähren. Und dann war da noch Christianes Sohn; auch seinetwegen würden sie noch warten müssen. Aber immerhin, es war möglich; zum erstenmal seit vielen Jahren schien etwas möglich zu sein.
Am nächsten Tag schrieb Bruno einen kurzen, gerührten Brief an Michel. Er erklärte, daß er glücklich sei, und bedauerte, daß sie es nie geschafft hatten, sich wirklich zu verstehen. Er wünschte ihm, daß auch er, soweit das möglich sei, irgendeine Form des Glücks kennenlernen möge. Er unterzeichnete mit den Worten: » Dein Bruder Bruno.«
17
Als der Brief eintraf, befand sich Michel gerade mitten in einer theoretischen Krise, die ihn ziemlich entmutigte. Margenaus Hypothese zufolge konnte man das individuelle Bewußtsein einem Wahrscheinlichkeitsfeld in einem Fock-Raum gleichsetzen, der als eine direkte Summe von Hilbert-Räumen definiert wurde. Dieser Raum konnte im Prinzip ausgehend von elementaren elektronischen Ereignissen konstruiert werden, die sich auf der Ebene der synaptischen Mikrobereiche abspielten. Das normale Verhalten ließ sich daher einer elastischen Feldverformung gleichsetzen und das freie Handeln einem Riß: Aber in welcher Topologie? Es war durchaus nicht selbstverständlich, daß die natürliche Topologie der Hilbert-Räume das Aufkommen der freien Handlung beschreiben konnte; es war nicht einmal sicher, daß es heute schon möglich war, diese Frage zu stellen, es sei denn in äußerst metaphorischen Begriffen. Dennoch war Michel überzeugt, daß ein neuer begrifflicher Rahmen notwendig geworden war. Jeden Abend, bevor er seinen PC
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