Elementarteilchen
vermischte Knochen und die Masse der weißen Haare, die unglaublich zahlreich und lebendig waren. Er sah seine Großmutter wieder vor sich, wie sie vor dem Fernseher saß und stickte oder wie sie in die Küche ging. So war das. Als er an der Bar des Sports vorbeikam, merkte er, daß er zitterte. Er ging hinein, be- stellte einen Pastis. Als er Platz genommen hatte, merkte er, daß die Innenausstattung ganz anders war, als er sie in Erinnerung hatte. Es gab einen Billardtisch, Videospiele und einen Fernseher, der Videoclips auf MTV zeigte. Auf der als Werbeplakat an die Wand gehefteten Titelseite von Newlook stand eine Schlagzeile über die Phantasmen von Zara Whites und den großen weißen Hai in Australien. Er nickte nach einer Weile leicht ein.
Annabelle erkannte ihn als erste. Sie hatte gerade eine Pakkung Zigaretten gekauft und ging auf den Ausgang zu, als sie ihn zusammengesunken auf der Bank sitzen sah. Sie zögerte zwei oder drei Sekunden, dann ging sie auf ihn zu. Er hob die Augen. »Das ist aber eine Überraschung ...«, sagte sie leise; dann setzte sie sich ihm gegenüber auf die mit Kunstleder bezogene Sitzbank. Sie hatte sich kaum verändert. Sie hatte noch immer ein unglaublich glattes, reines Gesicht und leuchtend blondes Haar; es war kaum zu glauben, daß sie vierzig war, man schätzte sie auf höchstens sieben- oder achtundzwanzig.
Sie war aus ähnlichen Gründen in Crécy wie er. »Mein Vater ist vor einer Woche gestorben«, sagte sie. »Darmkrebs. Es hat sich ziemlich lange hingezogen, er hat furchtbar gelitten. Ich bin eine Weile hiergeblieben, um Mama zu helfen. Ansonsten lebe ich in Paris - wie du.«
Michel senkte die Augen, es wurde einen Moment still. Am Nebentisch unterhielten sich zwei junge Männer über Karatekämpfe.
»Vor drei Jahren habe ich zufällig Bruno auf einem Flughafen getroffen. Er hat mir erzählt, daß du Forscher geworden bist, ein bedeutender Mann, eine Kapazität auf deinem Gebiet. Er hat mir auch erzählt, daß du nicht geheiratet hast. Mein Leben ist weniger glänzend, ich bin Bibliothekarin, in einer Stadtbibliothek. Ich habe auch nicht geheiratet. Ich habe oft an dich gedacht. Ich habe dich damals gehaßt, weil du nicht auf meine Briefe ge- antwortet hast. Das ist jetzt dreiundzwanzig Jahre her, aber manchmal denke ich noch daran.«
Sie begleitete ihn zum Bahnhof. Es wurde allmählich dunkel, es war fast sechs. Sie blieben auf der Brücke stehen, die über den Grand Morin führte. Sie waren von Wasserpflanzen, Kastanien und Weiden umgeben; das Wasser war ruhig und grün. Corot hatte diese Landschaft geliebt und sie mehrfach gemalt. Ein regungsloser Greis in seinem Garten wirkte wie eine Vogelscheuche. »Jetzt sind wir am gleichen Punkt angelangt«, sagte Annabelle. »Gleich weit vom Tod entfernt.«
Sie stieg auf das Trittbrett, um ihm, kurz bevor der Zug abfuhr, einen Kuß auf die Wangen zu drücken. »Wir sehen uns wieder«, sagte er. »Ja«, erwiderte sie.
Sie lud ihn am folgenden Samstag zum Abendessen ein. Sie wohnte in einem kleinen Appartement in der Rue Legendre. Sie lebte auf sehr begrenztem Raum, doch die Wohnung strahlte etwas Warmes aus - Decke und Wände waren mit dunklem Holz verkleidet, wie in einer Schiffskabine. »Ich wohne seit acht Jahren hier«, sagte sie. »Ich bin hier eingezogen, nachdem ich die Aufnahmeprüfung für Bibliothekare bestanden habe. Vorher habe ich bei TF1 gearbeitet, in der Abteilung für Koproduktionen. Ich hatte genug davon, das Fernsehmilieu ist nichts für mich. Durch den Berufswechsel verdiene ich nur noch ein Drittel dessen, was ich vorher bekommen habe, aber es ist besser so. Ich arbeite in der Stadtbibliothek des 17. Arrondissements, in der Kinderbuchabteilung.«
Sie hatte ein Lammcurry und ein indisches Linsengericht zubereitet. Während des Essens sprach Michel kaum. Er erkundigte sich bei Annabelle nach ihrer Familie. Ihr ältester Bruder hatte das väterliche Unternehmen übernommen. Er war verheiratet, hatte drei Kinder - einen Jungen und zwei Mädchen. Leider war die Firma in Schwierigkeiten gekommen, die Konkurrenz auf dem Gebiet der Präzisionsoptik war immer härter geworden, schon mehrere Male hätten sie fast Konkurs angemeldet, er tröstete sich über seine Sorgen hinweg, indem er Pastis trank und Le Pen wählte. Ihr anderer Bruder hatte in der Marketingabteilung von L‘Oréal angefangen; vor kurzem hatte er eine Stelle in den USA
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