Elementarteilchen
trennte; tatsächlich war ihr Bruno schon seit langem aufgefallen, sie mochte ihn und wünschte sich an jenem Abend lebhaft, er würde ihre Hand ergreifen)? Wahrscheinlich, weil Caroline Yessayans Schenkel nackt war und Bruno sich in seiner schlichten Seele nicht vorstellen konnte, daß sich dahinter nicht eine Absicht verbarg. Je länger sich Bruno mit zunehmendem Alter angeekelt in die Gefühlswelt seiner Kindheit zurückversetzte, desto klarer trat der innere Kern seines Schicksals hervor und erschien im Licht einer kalten, hoffnungslosen Gewißheit. An jenem Dezemberabend im Jahr 1970 hätte Caroline Yessayan vermutlich die Macht besessen, ihn die Demütigungen und Trostlosigkeit seiner frühen Kindheit vergessen zu lassen; nach diesem ersten Mißerfolg (denn nachdem sie sanft seine Hand zurückgeschoben hatte, wagte er es nie wieder, sie anzusprechen) wurde alles viel schwieriger. Dabei war Caroline Yessayan gesamtmenschlich gesehen in keiner Weise dafür verantwortlich. Ganz im Gegenteil, denn Caroline Yessayan, die kleine Armenierin mit dem sanften Blick eines Lamms und dem langen lockigen schwarzen Haar, die als Folge nicht zu lösender familiärer Komplikationen in den düsteren Gebäuden des Mädcheninternats von Meaux gelandet war, war für sich allein schon Grund genug, den Glauben an die Menschheit nicht zu verlieren. Wenn dennoch alles in eine betrübliche Leere umgeschlagen war, dann nur aufgrund eines winzigen, fast lächerlichen Details. Dreißig Jahre später war Bruno fest davon überzeugt: Wenn man den anekdotischen Elementen der Situation die Bedeutung zumaß, die sie wirklich verdienten, konnte man die Situation mit folgenden Worten zusammenfassen: Caroline Yessayans Minirock war an allem schuld.
Dadurch, daß Bruno seine Hand auf Caroline Yessayans Schenkel legte, machte er ihr in Wirklichkeit praktisch einen Heiratsantrag. Er verlebte den Beginn seiner Jugend in einer Zeit des Wandels. Abgesehen von einigen Vorläufern - ein trauriges Beispiel für diese stellten übrigens seine Eltern dar - hatte die vorausgegangene Generation eine außergewöhnlich enge Verknüpfung zwischen Ehe, Sexualität und Liebe hergestellt. Die steigende Zahl der Lohnempfänger, die rasche wirtschaftliche Entwicklung der 50er Jahre sollten tatsächlich - außer in den immer kleiner werdenden Kreisen, in denen der Begriff des Familienbesitzes noch eine wirkliche Rolle spielte - dazu führen, daß die Vernunftheirat an Bedeutung verlor. Die katholische Kirche, die der außerehelichen Sexualität immer starke Vorbehalte entgegengebracht hatte, begrüßte begeistert diese gesellschaftliche Entwicklung zugunsten der Liebesheirat, die ihren Theorien besser entsprach (»Und schuf sie, einen Mann und ein Weib«) und sich besser dazu eignete, den ersten Schritt in Richtung auf die Zivilisation des Friedens, der Treue und der Liebe zu machen, die ihr natürliches Ziel darstellte. Die kommunistische Partei, die einzige geistige Macht, die während dieser Jahre einem Vergleich mit der katholischen Kirche standhalten konnte, kämpfte für ganz ähnliche Ziele. Daher warteten die Jugendlichen in den 50er Jahren mit einhelliger Ungeduld darauf, sich zu verlieben, vor allem da ihnen die Landflucht und der damit verbundene Untergang der Dorfgemeinschaften die Möglichkeit bot, die Suche nach einem Ehepartner auf einen nahezu unbegrenzten Radius auszudehnen, und die Partnerwahl zugleich eine extreme Bedeutung erlangte (die Politik der sogenannten grands ensembles, der Wohnsiedlungen - die augenfälligste Illustration für die auf den Rahmen der Kleinfamilie reduzierte Gesellschaft -, wurde im September 1955 in Sarcelles eingeführt). Daher kann man die 50er und die beginnenden 60er Jahre unbestreitbar als ein wahres goldenes Zeitalter der Liebesgefühle bezeichnen - wovon uns die Chansons von Jean Ferrat und jene aus Françoise Hardys Anfangszeit noch heute ein anschauliches Bild vermitteln.
Gleichzeitig verbreitete sich jedoch der Libidinal-Massenkonsum nordamerikanischen Ursprungs (die Songs von Elvis Presley, die Filme mit Marilyn Monroe) in Westeuropa. Parallel zu den Kühlschränken und Waschmaschinen, den materiellen Begleitern des Eheglücks, verbreiteten sich das Transistorradio und der Plattenspieler, die das Verhaltensmuster des Jugend Flirts propagieren sollten. Der in den ganzen 60er Jahren latente ideologische Konflikt kam Anfang der 70er Jahre in den Zeitschriften Madernoiselle Age tendre und 20 Ans zum
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