Elementarteilchen
bog sie die Zweige auseinander. Ihre Gesichtszüge begannen feiner zu werden, man konnte schon ahnen, daß sie außerordentlich schön werden würde. Ihr Busen zeichnete sich leicht unter dem Pullover ab. Es war das letztemal, daß es zu Ostern Schokoladeneier gab; im Jahr darauf waren sie schon zu alt für di ese Spiele.
Ab dem dreizehnten Lebensjahr lagern sich beim Mädchen unter der Einwirkung des Progesterons und des Östradiols, die in den Eierstöcken gebildet werden, Fettpolster in der Brustund Gesäßgegend ein. Diese Körperteile erlangen im Optimalfall eine volle, harmonische, runde Form; ihre Betrachtung ruft beim Mann ein heftiges sinnliches Begehren hervor. Wie schon ihre Mutter im gleichen Alter hatte auch Annabelle einen sehr schönen Körper. Doch das Gesicht ihrer Mutter war lediglich ansprechend und gefällig gewesen, mehr nicht. Nichts konnte den schmerzhaften Schock von Annabelles Schönheit voraussehen lassen, und ihre Mutter bekam allmählich Angst. Annabelle hatte die großen blauen Augen und das dichte, glänzende hellblonde Haar sicherlich von ihrem Vater geerbt, dem holländischem Zweig der Familie; aber nur ein unerhörter morphogenetischer Zufall hatte die herzzerreißende Ebenmäßigkeit ihrer Gesichtszüge hervorbringen können. Ohne Schönheit ist ein junges Mädchen unglücklich, denn es hat keine Chance, geliebt zu werden. Niemand macht sich zwar über ein solches Mädchen lustig oder schikaniert es; aber es ist gleichsam durchsichtig, kein Blick folgt ihr. Jeder fühlt sich in ihrer Gegenwart unwohl und ignoriert sie lieber. Eine extreme Schönheit dagegen, eine Schönheit, die in ungewöhnlichem Maße die übliche, bezaubernde Frische der jungen Mädchen übertrifft, ruft eine übernatürliche Wirkung hervor und scheint unweigerlich ein tragisches Schicksal anzukünden. Mit fünfzehn Jahren gehörte Annabelle zu den ganz wenigen Mädchen, nach denen sich alle Männer, gleich welchen Alters oder Stands, umdrehen; zu den Mädchen, die ganz einfach dadurch, daß sie über die Geschäftsstraße einer mittelgroßen Stadt gehen, den Herzrhythmus der jungen Männer und der Männer im reiferen Alter beschleunigen und den Greisen ein Grunzen des Bedauerns entlocken. Sie wurde sich sehr bald der Stille bewußt, die jedesmal entstand, wenn sie ein Café oder einen Klassenraum betrat; aber es sollte Jahre dauern, ehe sie den Grund dafür völlig begriff. In der Oberschule in Crécy-en-Brie ging man allgemein davon aus, daß sie mit Michel »ging«; aber offen gesagt, hätte es selbst ohne diese Annahme kein Junge gewagt, mit ihr etwas anzufangen. Das ist einer der wesentlichen Nachteile, die übergroße Schönheit einem Mädchen einbringt: Nur die erfahrenen, zynischen, skrupellosen Verführer fühlen sich der Herausforderung gewachsen; und daher fällt im allgemeinen den denkbar unwürdigsten Wesen der Schatz ihrer Unschuld zu, und das ist für sie die erste Stufe eines unaufhaltsamen Niedergangs.
Im September 1972 kam Michel in die elfte Klasse des Gymnasiums in Meaux. Annabelle kam in die zehnte; sie würde noch ein Jahr auf der Oberschule bleiben. Er fuhr mit dem Zug aus dem Gymnasium zurück und stieg in Esbly in einen Schienenbus um. Im allgemeinen nahm er den Zug, der um 18 Uhr 33 in Crécy eintraf, Annabelle erwartete ihn am Bahnhof. Gemein- sam gingen sie an den Kanälen entlang durch die kleine Stadt. Manchmal - wenn auch ziemlich selten - gingen sie ins Café. Annabelle wußte inzwischen, daß Michel früher oder später Lust haben würde, sie zu küssen und ihren Körper zu streicheln, dessen Verwandlung sie spürte. Sie erwartete diesen Augenblick ohne Ungeduld und auch ohne allzu große Angst; sie war voller Zuversicht.
Auch wenn die grundlegenden Faktoren des Sexualverhaltens angeboren sind, spielt der Verlauf der ersten Lebensjahre eine wichtige Rolle für die Mechanismen seiner Auslösung, vor allem bei den Vögeln und den Säugetieren. Der frühe Körperkontakt mit seinen Artgenossen scheint für den Hund, die Katze, die Ratte, das Meerschweinchen und den Rhesusaffen (Macaca mulatta) lebenswichtig zu sein. Der Entzug des körperlichen Kontakts mit der Mutter während der Kindheit führt etwa bei der männlichen Ratte zu schweren sexuellen Verhaltensstörungen und insbesondere zu einem gehemmten Paarungsverhalten. Selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte (und es hing tatsächlich weitgehend davon ab), wäre Michel nicht dazu fähig gewesen, Annabelle zu
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