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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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anderen auf; dieses Mitleid wird sehr bald im Rahmen des moralischen Gesetzes syst ematisiert. Im Internat in Meaux repräsentierte Jean Cohen das moralische Gesetz, und er hatte nicht die geringste Absicht, davon abzuweichen. Er erachtete den Gebrauch, den die Nazis von Nietzsches Gedankengut gemacht hatten, für durchaus legitim: In seinen Augen führte Nietzsches Gedankengut, dadurch daß es das Mitgefühl negierte, sich über die moralischen Gesetze erhob und den Willen und das Reich des Willens begründete, auf natürliche Weise zum Nazismus. Aufgrund seiner Dienstjahre und seines akademischen Grads hätte er zum Internatsleiter ernannt werden können; doch er begnügte sich freiwillig mit der Stelle des leitenden Erziehers. Er schrieb mehrere Briefe an die Schulbehörde, um sich über die Stellenreduzierung für die Erzieher in den Internaten zu beschweren; diese Briefe blieben ohne Folgen. In einem Zoo verhält sich ein männliches Känguruh (Macropodidae) oft so, als sei die aufrechte Körperhaltung seines Wärters eine Herausforderung zum Kampf. Die Aggressionen des Känguruhs können dadurch besänftigt werden, daß der Wärter eine gebeugte Haltung einnimmt, die für friedliche Känguruhs charakteristisch ist. Jean Cohen hatte nicht die geringste Lust, sich in ein friedliches Känguruh zu verwandeln. Michel Brasseurs Bösartigkeit, ein normales Entwicklungsstadium des bereits bei nicht so hochentwickelten Tieren vorhandenen Egoismus, hatte einen seiner Kameraden zeitlebens in einen Krüppel verwandelt; sie würde vermutlich bei einem Jungen wie Bruno nicht rückgängig zu machende psychologische Schäden hinterlassen. Als er Brasseur in sein Büro zitierte, um ihn zu befragen, bemühte er sich nicht, ihm seine Verachtung zu verheimlichen, und erst recht nicht seine Absicht, dafür zu sorgen, daß er von der Schule verwiesen werde.

    An jedem Sonntagabend, wenn sein Vater ihn in seinem Mercedes zurückfuhr, begann Bruno kurz vor Nanteuil-les-Meaux zu zittern. Das Besuchszimmer des Internats war mit Flachreliefs ausgeschmückt, die berühmte ehemalige Schüler darstellten: Courteline und Moissan. Georges Courteline, frz. Schriftsteller, ist der Verfasser ironischer Bühnenstücke, die die Absurdität des kleinbürgerlichen und bürokratischen Lebens darstellen. Henri Moissan, frz. Chemiker (Nobelpreis 1906), hat den Gebrauch des elektrischen Ofens eingeführt und Silizium und Fluor isoliert. Sein Vater kam immer gerade rechtzeitig für das Abendessen um sieben an. Im allgemeinen konnte Bruno nur mittags essen, wenn die Mahlzeit gemeinsam mit den anderen Schülern, die nicht im Internat lebten, eingenommen wurden; abends waren die Internatsschüler unter sich. Es waren Tische für acht Personen, die Größeren besetzten als erste die Plätze. Sie bedienten sich reichlich und spuckten dann in die Schüssel, damit die Kleinen den Rest nicht mehr anrührten. An jedem Sonntag zögerte Bruno, mit seinem Vater zu sprechen und kam schließlich zu der Überzeugung, daß es unmöglich sei. Sein Vater war der Ansicht, ein Junge müsse lernen, sich zu verteidigen; und manche, die nicht älter waren als er, gaben tatsächlich Widerworte und kämpften verbissen, bis es ihnen gelang, sich Respekt zu verschaffen. Mit zweiundvierzig Jahren war Serge Clément ein Mann, der es zu etwas gebracht hatte. Wä hrend seine Eltern ein kleines Lebensmittelgeschäft in Petit-Clamart führten, besaß er inzwischen drei Kliniken für Schönheitschirurgie: eine in Neuilly, eine weitere in Le Vésinet und die dritte in der Schweiz, in der Nähe von Lausanne. Als sich seine Exfrau in Kalifornien niederließ, hatte er außerdem die Geschäftsführung der Klinik in Cannes wieder übernommen und zahlte ihr die Hälfte der Gewinne aus. Schon seit langem operierte er nicht mehr selbst; aber er war, wie man sagt, ein guter Manager. Er wußte nicht recht, wie er mit seinem Sohn umgehen sollte. Im Grunde meinte er es gut mit ihm, vorausgesetzt, die Sache nahm nicht zuviel Zeit in Anspruch; er fühlte sich ein wenig schuldig. An den Wochenenden, an denen Bruno kam, verzichtete er im allgemeinen darauf, seine Mätressen zu sich einzuladen. Er kaufte Fertigmenüs in einem Feinkostgeschäft, sie aßen zu zweit; dann sahen sie fern. Er kannte kein einziges Spiel. Manchmal stand Bruno nachts auf und ging zum Kühlschrank. Er schüttete Cornflakes in eine Schale, fügte Milch und Sahne hinzu; er bedeckte das Ganze mit einer dicken Schicht Zucker. Dann aß

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