Elementarteilchen
Ausbruch und kreiste um die zu jener Zeit zentrale Frage: »Wie weit darf man vor der Ehe gehen?« In denselben Jahren wurde die libidinal-hedonistische Haltung nordamerikanischen Ursprungs von anarchistisch inspirierten Presseorganen tatkräftig unterstützt (Actuel erschien zum erstenmal im Oktober 1970, Charlie-Hebdo im November). Wenn diese Zeitschriften auch im Prinzip im politischen Umfeld der Protestbewegung gegen den Kapitalismus angesiedelt waren, waren sie sich dennoch mit der Unterhaltungsindustrie in den wesentlichen Punkten einig: Zerstörung der jüdisch-christlich geprägten moralischen Werte, Apologie der Jugend und der individuellen Freiheit. Dem Druck gegensätzlicher Tendenzen ausgesetzt, entwarfen die Mädchenzeitschriften im Eilverfahren ein Arrangement, das man in der folgenden Lebensbeschreibung zusammenfassen kann. In der ersten Phase (sagen wir zwischen zwölf und achtzehn Jahren) geht das Mädchen mit zahlreichen Jungen (die semantische Zweideutigkeit des Begriffs gehen spiegelt übrigens eine Zweideutigkeit des realen Verhaltens wider: Was hieß das eigentlich genau, mit einem Jungen zu gehen? Bedeutete es, sich auf den Mund zu küssen, oder handelte es sich um die tieferen Freuden des Necking und des Petting oder gar um richtige sexuelle Beziehungen? Sollte man zulassen, daß der Junge einem die Brüste berührte? Mußte man den Schlüpfer ausziehen? Und was sollte man mit den Geschlechtsorganen des Jungen anfangen?). Für Patricia Hohweiller, für Caroline Yessayan war das alles keineswegs einfach; ihre Lieblingszeitschriften gaben unklare, widersprüchliche Antworten. In der zweiten Phase (im allgemeinen kurz nach dem Abitur) empfand dasselbe Mädchen das Bedürfnis nach einer ernsten Beziehung (die später in den deutschen Zeitschriften mit dem Ausdruck »big love« bezeichnet wurde), und die entscheidende Frage hieß dann: »Soll ich mit Jérémie zusammenziehen?« Das war die zweite, im Prinzip endgültige Phase. Wie extrem anfällig dieses in den Mädchenzeitschriften propagierte Arrangement war - in Wirklichkeit handelte es sich nur darum, antagonistische Verhaltensmuster in Einklang zu bringen, indem man sie völlig willkürlich zwei aufeinanderfolgenden Lebensphasen zuordnete -, sollte sich erst einige Jahre später herausstellen, als bekannt wurde, wie weit verbreitet das Phänomen der Scheidung war. Dennoch hat dieses zweifelhafte Schema einige Jahre lang für die jungen Mädchen, die sowieso ziemlich naiv und vom Tempo der Umwälzungen, die sich um sie herum vollzogen, ziemlich überfordert waren, ein glaubhaftes Lebensideal darstellen können, das sie in den Grenzen des Möglichen zu verwirklichen suchten.
Für Annabelle lagen die Dinge allerdings völlig anders. Sie dachte abends vor dem Einschlafen an Michel; sie freute sich am nächsten Morgen darauf, ihn wiederzusehen. Wenn sie im Unterricht irgend etwas Lustiges oder Interessantes erlebte, dachte sie sofort an den Augenblick, in dem sie es ihm erzählen würde. An den Tagen, an denen sie sich aus irgendeinem Grund nicht hatten sehen können, war sie unruhig und traurig. In den Sommerferien (ihre Eltern hatten ein Haus in der Gironde) schrieb sie ihm jeden Tag. Auch wenn sie es sich nicht offen eingestand, auch wenn ihre Briefe nicht von entflammter Glut zeugten, sondern eher jenen glichen, die sie einem gleichaltrigen Bruder hätte schreiben können, auch wenn das Gefühl, das ihr Leben einhüllte, mehr einer sanften Woge denn einer verzehrenden Leidenschaft glich, ergriff allmählich folgende Gewißheit Besitz von ihrem Denken: Sie war auf Anhieb, ohne sie gesucht, ohne sich wirklich nach ihr gesehnt zu haben, ihrer großen Liebe be- gegnet. Die erste war die richtige, es würde keine andere geben, diese Frage brauchte nicht einmal gestellt zu werden. Madernoi selle Age tendre z ufolge war dieser Fall durchaus möglich: Man dürfe sich nichts vormachen, es käme so gut wie nie vor; doch in gewissen, äußerst seltenen Fällen, die an Wunder grenzten -aber trotzdem waren sie unwiderlegbar bezeugt -, könne es vorkommen. Und es sei das Schönste, was einem auf der Welt passieren könne.
11
Aus dieser Zeit besaß Michel ein Foto, das in den Osterferien 1971 im Garten von Annabelles Eltern aufgenommen war; ihr Vater hatte Schokoladeneier in den Sträuchern und Blumenbeeten versteckt. Auf dem Foto stand Annabelle mitten zwischen den Forsythiensträuchern; mit kindlichem Ernst und ganz auf die Suche konzentriert,
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