Elementarteilchen
küssen. Oft war sie abends so glücklich, wenn sie ihn mit seiner Schultasche in der Hand aus dem Schienenbus steigen sah, daß sie sich ihm buchstäblich an den Hals warf. Dann verharrten sie einige Sekunden lang eng umschlungen in einem Zustand glücklicher Lähmung; erst danach sprachen sie miteinander.
Auch Bruno war in der elften Klasse im Gymnasium in Meaux, aber in einer Parallelklasse; er wußte, daß seine Mutter einen zweiten Sohn von einem anderen Vater hatte; mehr wußte er nicht. Er sah seine Mutter sehr selten. Zweimal hatte er die Ferien in der Villa verbracht, die sie in Cassis bewohnte. Sie nahm viele junge Leute in ihrem Haus auf, die auf der Durchreise waren und per Anhalter durchs Land zogen. Diese Jungen Leute waren das, was die Boulevardblätter Hi ppies nannten. Tatsächlich arbeiteten sie nicht; während ihres Aufenthalts in der Villa kam Janine, die ihren Vornamen geändert hatte und sich Jane nennen ließ, für ihren Unterhalt auf. Sie lebten folglich von den Einnahmen aus der Klinik für Schönheitschirurgie, die ihr Exmann gegründet hatte - also letztlich von dem Wunsch gewisser wohlhabender Frauen, gegen die Verfallserscheinungen zu kämpfen, die die Zeit mit sich bringt, oder gewisse Unvollkommenheiten der Natur zu korrigieren. Sie badeten nackt in kleinen Felsbuchten. Bruno weigerte sich, seine Badehose auszuziehen. Er fühlte sich kalkweiß, winzig, abstoßend und dick. Manchmal nahm seine Mutter einen der Jungen mit ins Bett. Sie war schon fünfundvierzig; ihre Schamlippen waren dünner geworden und hingen etwas herab, aber ihre Züge waren immer noch hinreißend. Bruno wichste dreimal am Tag. Die Scheiden der jungen Frauen waren zugänglich, manchmal waren sie nicht einmal einen Meter entfernt; aber Bruno begriff vollkommen, daß sie ihm verschlossen blieben: die anderen Jungen waren größer, gebräunter und kräftiger. Viele Jahre später sollte Bruno feststellen, daß die Welt der Kleinbürger, die Welt der Angestellten und mittleren Beamten toleranter, liebenswürdiger und aufgeschlossener ist als die Welt der Aussteiger, der am Rande der Gesellschaft lebenden jungen Leute, die damals durch die Hippies verkörpert wurden. »Ich kann mich als ehrbarer Angestellter verkleiden und von ihnen akzeptiert werden«, sagte Bruno gern. »Dafür brauche ich mir nur einen Anzug, eine Krawatte und ein Oberhemd zu kaufen - das ganze für 8oo Franc im Schlußverkauf bei C & A; eigentlich brauche ich nur zu lernen, wie man eine Krawatte bindet. Dann ist da allerdings noch das Problem mit dem Auto - das ist im Grunde die einzige Schwierigkeit im Leben eines Angestellten; aber das ist zu schaffen, man nimmt einen Kredit auf, man arbeitet ein paar Jahre, und dann schafft man es. Dagegen würde es mir nichts nützen, mich als Aussteiger zu verkleiden: dafür bin ich weder jung, noch schön, noch cool genug. Ich habe Haarausfall und nehme leicht zu; und je älter ich werde, um so ängstlicher und empfindlicher werde ich und um so stärker leide ich darunter, wenn man mir mit Abweisung oder Verachtung begegnet. Kurz gesagt, ich bin nicht natürlich genug, oder mit anderen Worten, nicht Tier genug- und dabei handelt es sich um ein unüberwindbares Handikap: Was immer ich sage, tue oder kaufe, nie wird es mir gelingen, diese Schwäche zu überwinden, denn sie hat die rohe Gewalt einer natürlichen Schwäche.« Schon bei seinem ersten Aufenthalt bei seiner Mutter wurde Bruno klar, daß die Hi ppies ihn nie akzeptieren würden; er war kein schönes Tier, würde nie eins sein. Nachts träumte er von weit geöffneten Scheiden. Etwa zur gleichen Zeit begann er, Kafka zu lesen. Beim erstenmal empfand er ein Gefühl der Kälte, des heimtückischen Frosts; mehrere Stunden, nachdem er den Prozeß zu Ende gelesen hatte, fühlte er sich noch erstarrt, benommen. Er wußte sofort, daß diese verlangsamte, von Schmach und Schuld gekennzeichnete Welt, in der sich die Wesen in einer kosmischen Leere begegneten, ohne daß je eine Beziehung zwischen ihnen möglich schien, genau seiner Geisteswelt entsprach. Die Welt war langsam und kalt. Doch es gab eine warme Sache, die die Frauen zwischen den Beinen hatten; aber zu dieser Sache hatte er keinen Zugang.
Es wurde immer offensichtlicher, daß es Bruno schlecht ging und er keine Freunde hatte, daß er panische Angst vor Mädchen hatte und seine Jugend generell ein elender Mißerfolg war. Sein Vater merkte es und spürte, wie ihn ein zunehmendes Schuldgefühl überkam.
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