Elementarteilchen
Er verlangte, seine Exfrau zu Weihnachten 1972 zu sehen, um mit ihr darüber zu sprechen. Im Lauf des Gesprächs stellte sich heraus, daß Brunos Halbbruder auf dasselbe Gymnasium ging, daß er ebenfalls in der elften Klasse war (wenn auch in einer Parallelklasse) und daß sie sich nie begegnet waren; diese Tatsache ging ihm sehr nah, denn er sah darin das Symbol eines verwerflichen Zerfalls der Familie, für den sie beide verantwortlich waren. Zum erstenmal in seinem Leben sprach er ein Machtwort und verlangte, daß Janine die Verbindung zu ihrem zweiten Sohn wieder aufnehmen solle, um zu retten, was noch zu retten war.
Janine machte sich wenig Illusionen über die Gefühle, die Michels Großmutter ihr gegenüber hegte; aber es kam noch schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. In dem Augenblick, da sie ihren Porsche vor dem Haus in Crécy-en-Brie parkte, kam die alte Frau mit der Einkaufstasche in der Hand aus der Tür. »Ich kann Sie nicht daran hindern, ihn zu sehen, er ist schließlich Ihr Sohn«, sagte sie abrupt. »Ich gehe jetzt einkaufen und komme in zwei Stunden wieder; bei meiner Rückkehr will ich Sie hier nicht mehr sehen.« Dann machte sie auf dem Absatz kehrt. Michel war in seinem Zimmer; sie öffnete die Tür und trat ein. Sie hatte vorgehabt, ihn in die Arme zu nehmen, aber als sie zu dieser Geste ansetzte, wich er einen guten Meter zurück. Seit er größer war, glich er seinem Vater immer mehr: das gleiche feine blonde Haar, das gleiche scharf geschnittene Gesicht mit den hervorstehenden Backenknochen. Sie hatte ihm einen Plattenspieler und mehrere Alben der Rolling Stones als Geschenk mitgebracht. Er nahm alles wortlos entgegen (er behielt das Gerät, sollte aber die Platten wenige Tage später zerstören). Sein Zimmer war nüchtern eingerichtet, kein Poster schmückte die Wand. Ein Mathematikbuch lag aufgeschlagen auf der Schreibplatte des Sekretärs. »Was ist das?« fragte sie. »Differentialgleichungen«, erwiderte er reserviert. Sie hatte vorgehabt, mit ihm über sein Leben zu sprechen, ihn für die Ferien einzuladen; das war offensichtlich nicht möglich. Sie begnügte sich damit, ihm den baldigen Besuch seines Bruders anzukündigen; er war einverstanden. Als sie schon fast eine Stunde da war und immer öfter ein langes Schweigen entstand, drang plötzlich Annabelles Stimme durch den Garten. Michel stürzte ans Fenster, rief ihr zu, sie solle hereinkommen. Janine warf einen Blick auf das Mädchen, als es gerade durch das Gartentor ging. »Du hast aber eine hübsche Freundin ...«, bemerkte sie und verzog dabei leicht den Mund. Ihre Worte trafen Michel mit voller Wucht, seine Gesichtszüge veränderten sich. Als Janine wieder zu dem Porsche ging, begegnete sie Annabelle, blickte ihr in die Augen; in ihrem Blick lag Haß.
Gegen Bruno hegte Michels Großmutter keinerlei Abneigung; auch er hatte unter dieser Rabenmutter zu leiden gehabt, das war ihre Sicht der Dinge - etwas summarisch, aber letztlich zutreffend. Bruno gewöhnte sich also an, Michel jeden Donnerstagnachmittag zu besuchen. Er nahm den Schienenbus aus Richtung Crécy-la-Chapelle. Wenn immer es möglich war (und es war fast immer möglich), setzte er sich einem Mädchen gegenüber, das allein war. Die meisten hatten die Beine übereinandergeschlagen, eine durchsichtige Bluse oder etwas anderes. Er setzte sich nicht direkt, sondern eher schräg gegenüber, aber oft in dieselbe Sitzreihe, keine zwei Meter entfernt. Er hatte schon einen Ständer, wenn er langes blondes oder braunes Haar sah; während er durch das Abteil ging, um sich einen Platz zu suchen, wurde der Schmerz in seinem Slip heftiger. Schon bevor er sich setzte, zog er ein Taschentuch aus der Tasche. Er brauchte nur noch einen Schnellhefter aufzuschlagen und ihn auf die Schenkel zu legen; nach wenigen Handgriffen war es soweit. Manchmal, wenn ein Mädchen die Beine übereinanderschlug, während er gerade seinen Schwanz herausholte, brauchte er nicht einmal die Hand zu Hilfe zu nehmen; ein Strahl erlöste ihn, wenn er das Höschen sah. Das Taschentuch war nur zur Sicherheit da, im allgemeinen spritzte sein Samen auf die Seiten des Schnellhefters: auf die Gleichungen zweiten Grades, auf die schematische Darstellung von Insekten, auf die Kohlenproduktion der UdSSR. Das Mädchen las weiter in ihrer Zeitschrift.
Viele Jahre später war Bruno immer noch voller Zweifel. Diese Dinge hatten sich ereignet; sie standen in direktem Zusammenhang mit einem
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