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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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ahnungslose Gesicht von Mary, seiner Sekretärin, entdeckte, die neben seinem Schreibtisch auf ihn wartete mit einem Bericht, den sie für ihn getippt hatte.
     »Ich hoffe, er ist in Ordnung, Mr. Henderson.«
     Walter nahm ihn und warf ihn auf den Schreibtisch.
    »Vergessen Sie's, Mary«, sagte er. »Sie können den Rest des Tages freinehmen, und morgen früh gehen Sie in die Personalabteilung. Sie werden eine neue Arbeit kriegen, ich bin gerade gefeuert worden.«
     Ihre erste Reaktion war ein kleines argwöhnisches Lä- cheln – sie glaubte, er würde scherzen –, aber dann wurde sie blaß und wirkte erschüttert. Sie war sehr jung und nicht allzu intelligent; in der Sekretärinnenschule hatten sie ihr wahrscheinlich nie erzählt, daß ihr Boß gefeuert werden könnte. »Aber das ist ja schrecklich, Mr. Hender- son. Ich ... also, aber warum tun sie so etwas?«
     »Ach, ich weiß nicht«, sagte er. »Aus vielen kleinen Grün- den vermutlich.« Er zog die Schubladen seines Schreib- tisches auf und knallte sie wieder zu, nachdem er seine Sachen herausgenommen hatte. Es waren nicht viele: eine Handvoll alter privater Briefe, ein ausgetrockneter Füllfederhalter, ein Feuerzeug ohne Feuerstein und ein halber Schokoladenriegel, eingewickelt in Papier. Er war sich bewußt, wie prägnant diese Dinge in ihren Augen aussehen mußten, als sie ihm dabei zuschaute, wie er sie sortierte und seine Taschen damit füllte, und er war sich der Würde bewußt, mit der er sich aufrichtete, umdrehte, seinen Hut vom Ständer nahm und ihn aufsetzte.
     »Sie betrifft das natürlich nicht, Mary«, sagte er. »Sie werden morgen eine neue Arbeit kriegen. Also.« Er reichte ihr die Hand. »Viel Glück.«
     »Danke. Ihnen auch. Also dann, guten Abend« – sie führte die Hand mit den abgekauten Fingernägeln an den Mund und kicherte unsicher –, »ich meine, auf Wieder- sehen, Mr. Henderson.«
     Der nächste Teil der Filmszene fand am Wasserbehälter statt, neben dem Joe Collins' nüchterner Blick sich mit Mitgefühl anreicherte, als Walter sich ihm näherte.
     »Joe«, sagte Walter. »Ich gehe. Bin rausgeflogen.«
     »Nein!« Aber Collins' erschrockene Miene war unver- kennbar ein Akt der Freundlichkeit; es konnte keine große Überraschung gewesen sein. »Himmel, Walt, was ist nur los mit diesen Leuten?«
    Dann stimmte Fred Holmes mit ein, sehr ernst und vol-
    ler Bedauern, doch sichtlich erfreut über die Neuigkeit. »Mensch, Junge, das ist eine verdammte Schande.«
     Walter ging mit den beiden zum Aufzug, wo er auf den »Abwärts«-Knopf drückte; und plötzlich näherten sich ihm Kollegen aus allen Ecken des Büros, ihre Gesichter starr vor Sorge, die Hände ausgestreckt.
     »Tut mir schrecklich leid, Walt ...«
     »Viel Glück, mein Junge ..,«
     »Melde dich, okay, Walt? ...«
     Walter nickte, lächelte, schüttelte Hände und sagte:
    »Danke« und »Bis bald« und »Das werde ich«; dann leuchtete das rote Licht über einer der Aufzugtüren mit einem kleinen mechanischen Ding! auf, und nach ein paar weiteren Sekunden glitten die Türen auf, und der Fahrstuhlführer sagte: »Nach unten!« Walter betrat die Kabine, noch immer starr lächelnd, und winkte den ern- sten, redenden Männern einen munteren Gruß zu, und als die Türen sich schlossen, arretierten und die Aufzug- kabine lautlos durch den Raum fiel, fand die Szene ihren perfekten Abschluß.
     Die ganze Fahrt hinunter stand er da mit dem geröte- ten, strahlenden Ausdruck eines von Freude erfüllten Man- nes; erst als er auf der Straße war und rascher ausschritt, wurde ihm klar, wie vollkommen wohl er sich gefühlt hatte.
     Der schwere Schock dieser Erkenntnis bremste ihn, bis er anhielt und eine knappe Minute lang vor einem Ge- bäude stehenblieb. Die Kopfhaut prickelte unter seinem Hut, und seine Finger begannen, am Knoten seiner Kra- watte und an den Knöpfen seines Jacketts herumzufum- meln. Er kam sich vor, als hätte er sich bei einer obszö- nen, schändlichen Handlung ertappt, und nie zuvor hatte er sich so hilflos, so verängstigt gefühlt.
     Dann, in einem Ausbruch von Tatendrang, setzte er sich erneut in Bewegung, rückte den Hut zurecht, biß die Zähne zusammen, trat hart mit den Absätzen auf, versuchte, eilig, ungeduldig, von Geschäften vorwärts ge- drängt zu wirken. Ein Mann konnte sich selbst in den Wahnsinn treiben, wenn er versuchte, sich mitten am Nachmittag mitten auf der Lexington Avenue zu psycho- analysieren. Er mußte etwas

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