Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
Vom Netzwerk:
hinausging, zeugte von mehr als nur Entschlossenheit: sie zeugte von vor- nehmer Würde.
     Bis er normalerweise nach Hause kam, waren noch mehrere Stunden totzuschlagen, und als er die Zweiund- vierzigste Straße Richtung Westen entlangging, beschloß er, sie in der Public Library totzuschlagen. Von seiner eigenen Wichtigkeit erfüllt, stieg er die breite Steintreppe hinauf, und bald saß er im Lesesaal, blätterte in einem gebundenen Band der Ausgaben des Life-Magazins vom letzten Jahr und ging seinen Plan wieder und wieder durch, erweiterte und vervollkommnete ihn.
     Er war klug genug, um zu wissen, daß diese tagtäg- liche Täuschung nicht einfach würde. Sie erforderte die beständige Wachsamkeit und Schläue eines Kriminellen. Aber war es nicht gerade die Schwierigkeit des Plans, die ihn lohnend machte? Und am Ende, wenn alles vorbei wäre und er es ihr endlich erzählen könnte, wäre der Lohn jede Minute der schweren Prüfung wert. Er wußte, wie sie ihn ansehen würde, wenn er es ihr erzählte – zuerst völlig ungläubig und dann, langsam, würde ihr Blick von einer Art von Hochachtung erfüllt, wie er sie in ihren Augen seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
     »Du willst sagen, daß du es die ganze Zeit für dich behalten hast? Aber warum, Walt?«
     »Ach, na ja«, würde er beiläufig sagen, sogar die Achseln zucken, »ich habe keinen Grund gesehen, dich zu beun- ruhigen.«
     Als es an der Zeit war, die Bibliothek zu verlassen, blieb er eine Weile vor dem Eingang stehen, zog heftig an einer Zigarette und blickte hinunter auf den Fünf-Uhr-Verkehr und die Menschenscharen. Dieser Ort war für ihn mit einer besonderen Erinnerung verbunden, denn hier hatte er sie zum ersten Mal getroffen, an einem Frühlingsabend vor fünf Jahren. »Können wir uns oben auf der Treppe zur Bibliothek treffen?« hatte sie ihn an jenem Morgen am Telefon gefragt, und erst viele Monate später, nachdem sie bereits verheiratet waren, hatte er sich über den Treff- punkt gewundert. Als er sie dann danach fragte, lachte sie. »Selbstverständlich war es beschwerlich – darum ging es ja. Ich wollte oben stehen, wie eine Prinzessin in einem Schloß oder so, und du solltest die vielen schönen Stufen hinaufsteigen, um Anspruch auf mich zu erheben.«
     Und genauso war es ihm erschienen. An jenem Tag hatte er das Büro zehn Minuten früher verlassen und war zu Grand Central geeilt, um sich in einer glänzenden unter- irdischen Toilette zu waschen und zu rasieren; ungedul- dig hatte er gewartet, während ein sehr alter, dicker, träger Bediensteter seinen Anzug zum Bügeln brachte. Nach- dem er dem Mann mehr Trinkgeld gegeben hatte, als er sich leisten konnte, war er nach draußen und die Zweiund- vierzigste Straße entlanggehastet, angespannt und atem- los, als er an Schuhgeschäften und Milchbars vorbeischritt, als er sich durch Schwärme unerträglich langsamer Fuß- gänger schlängelte, die keine Ahnung von der Dringlichkeit seiner Mission hatten. Er hatte Angst, zu spät zu kom- men, fürchtete halb, daß es sich um einen Scherz han- delte und sie nicht da wäre. Aber kaum hatte er die Fifth Avenue erreicht, sah er sie in der Ferne dort oben stehen, allein, am Kopf der Treppe zur Bibliothek – eine schlanke strahlende Brünette in einer modischen schwarzen Jacke.
     Da verlangsamte er den Schritt. Er überquerte schlen- dernd die Straße, eine Hand in der Tasche, und nahm die Stufen mit so leichter athletischer Nonchalance, daß sich niemand die Stunden der Angst, die Tage strategischer und taktischer Planung hätte vorstellen können, die ihn dieser Moment gekostet hatte.
    Als er sicher war, daß sie ihn kommen sah, blickte er
    wieder zu ihr, und sie lächelte. Es war nicht das erste Mal, daß er sie so lächeln sah, aber er war sich zum ersten Mal sicher, daß es nur ihm galt, und er verspürte einen war- men Schauder der Freude in der Brust. Er erinnerte sich nicht mehr an die Worte der Begrüßung, aber er erin- nerte sich, daß sie in Ordnung gewesen waren, daß es ein guter Anfang war – daß ihre großen strahlenden Augen ihn genauso sahen, wie er unbedingt gesehen werden wollte. Die Dinge, die er sagte, was immer es war, emp- fand sie als geistreich, und die Dinge, die sie sagte, oder der Klang ihrer Stimme, als sie sie sagte, machten ihn größer und starker und breitschultriger, als er es je zuvor im Leben gewesen war. Als sie sich umwandten und gemeinsam die Treppe hinunterzugehen begannen, faßte er sie am

Weitere Kostenlose Bücher