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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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unternehmen und sich eine neue Arbeit suchen.
     Das einzige Problem, so wurde ihm klar, und wieder blieb er stehen und schaute sich um, bestand darin, daß er nicht wußte, wohin er ging. Er war irgendwo in den hohen vierziger Straßen, an einer Ecke, an der Blumen- läden und Taxis leuchteten, belebt von gutgekleideten Männern und Frauen, die durch die klare Frühlingsluft gingen. Als erstes brauchte er ein Telefon. Er hastete über die Straße in einen Drugstore und bahnte sich durch die Gerüche von Seife und Parfüm, Ketchup und Speck einen Weg zu der Reihe von Telefonzellen an der hinteren Wand; er holte sein Adreßbuch heraus und schlug die Seite mit den Stellenvermittlungsbüros auf, die seine Bewerbungs- unterlagen hatten; dann holte er eine Münze hervor und betrat eine Telefonzelle.
     Aber alle Stellenvermittlungen sagten ihm das gleiche: im Augenblick keine freien Stellen auf seinem Gebiet; sinnlos, daß er bei ihnen vorbeikomme, solange sie ihn nicht anriefen. Als er damit durch war, suchte er wieder nach seinem Adreßbuch, um die Nummer eines Bekann- ten nachzuschlagen, der ihm einen Monat zuvor erzählt hatte, daß es in seinem Büro vielleicht bald eine freie Stelle gäbe. Das Adreßbuch befand sich nicht in der Innentasche seines Jacketts; er suchte es in den anderen Taschen des Jacketts und dann in den Hosentaschen, stieß dabei schmerzhaft mit dem Ellbogen gegen die Wand der Telefonzelle, aber er fand nur die alten Briefe und das Stück Schokolade aus seinem Schreibtisch. Flu- chend warf er die Schokolade auf den Boden und trat darauf, als wäre sie eine brennende Zigarette. Diese An- strengungen in der Hitze der Telefonzelle ließen ihn flach und schnell atmen. Er fühlte sich schwach, als er das Adreßbuch endlich sah, vor sich auf dem Münztelefon, wohin er es gelegt hatte. Sein Finger zitterte, als er wählte, und als er sprach und mit der freien Hand den Kragen von seinem schwitzenden Hals zerrte, klang seine Stim- me kläglich und aufdringlich wie die eines Bettlers.
     »Jack«, sagte er. »Ich habe mich gefragt ... ich habe mich nur gefragt, ob du was Neues über die freie Stelle weißt, die du vor einiger Zeit erwähnt hast ... «
     »Über was?«
     »Die freie Stelle. Du weißt schon. Du hast gesagt, daß es vielleicht eine freie Stelle in deinem ...«
     »Ach, das. Nein, ich habe nichts gehört, Walt. Ich wer- de mich melden, wenn es was Neues gibt.«
     »Okay, Jack.« Er schob die Tür der Telefonzelle auf und lehnte sich gegen die Wand aus gestanztem Blech, atmete tief ein, um die kühle Luft aufzunehmen. »Ich dachte nur, du hättest es vielleicht vergessen«, sagte er. Seine Stimme klang fast wieder normal. »Tut mir leid, wenn ich dich gestört habe.«
     »Ist schon in Ordnung«, sagte die herzliche Stimme in der Hörmuschel. »Was ist los, Junge? Wird die Lage brenzlig dort, wo du bist?«
      »Oh, nein«, hörte Walter sich sagen, und er war sofort froh über die Lüge. Er log fast nie, und es überraschte ihn immer, wie einfach es sein konnte. Seine Stimme wurde zuversichtlicher. »Mir geht es gut hier, Jack, ich wollte nur nicht ... du weißt schon, ich dachte, du hättest es vielleicht vergessen, das ist alles. Wie geht's der Fa- milie?«
     Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, meinte er, daß es nichts weiter zu tun gab, als nach Hause zu gehen. Aber er blieb noch lange in der offenen Telefonzelle sit- zen, die Füße auf den Boden des Drugstores hinausge- streckt, bis ein kleines, gerissenes Lächeln seine Lippen umspielte, langsam erlosch und einem Ausdruck gewohn- ter Stärke wich. Die Mühelosigkeit der Lüge hatte ihn auf eine Idee gebracht, die, je länger er darüber nachdachte, zu einer weitreichenden und revolutionären Entschei- dung heranwuchs.
     Er würde es seiner Frau nicht erzählen. Mit etwas Glück fände er irgendeine Arbeit, bevor der Monat vorbei wäre, und in der Zwischenzeit würde er zumindest dieses eine Mal in seinem Leben seine Sorgen für sich behalten. Heute abend, wenn sie ihn nach seinem Tag fragte, wür- de er sagen: »Ach, er war in Ordnung«, oder sogar: »Gut.« Morgens würde er zur üblichen Zeit aus dem Haus gehen und den ganzen Tag fortbleiben, und so würde er es jeden Tag machen, bis er eine Arbeit gefunden hätte.
     Der Ausdruck »reiß dich zusammen« schoß ihm durch den Kopf, und die Art, wie er sich dort in der Telefonzelle zusammenriß, die Münzen einsammelte, seine Krawatte zurechtzog und dann auf die Straße

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