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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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arbei- ten und darauf wartete, gefeuert zu werden. Er war jetzt ein ernsthafter, gutaussehender junger Mann, seine Klei- dung spiegelte den Einfluß einer Ostküstenuniversität wider, und sein ordentliches braunes Haar begann sich oben leicht zu lichten. Jahre guter Gesundheit hatten ihn weniger schmächtig gemacht, und obwohl er immer noch Schwierigkeiten hatte, seine Bewegungen miteinan- der abzugleichen, zeigte sich das heutzutage meist nur noch in kleineren Dingen wie zum Beispiel in seiner Un- fähigkeit, seinen Hut, seine Brieftasche, die Theaterkarten und das Wechselgeld zu koordinieren, ohne daß seine Frau stehenbleiben und auf ihn warten mußte, oder in seiner Neigung, heftig gegen Türen zu drücken, auf denen »Ziehen« stand. Jedenfalls wirkte er, wie er da in seinem Büro saß, wie ein Abbild von Gesundheit und Kompe- tenz. Niemand ahnte, daß unter seinem Hemd kalter Angstschweiß an ihm hinunterrann oder daß die Finger seiner linken Hand, versteckt in der Tasche, langsam ein Streichholzbriefchen zerrissen und zu einem feuchten Brei aus Pappe zermalmten. Seit Wochen hatte er es vor- hergesehen, und heute morgen, in dem Augenblick, als er aus dem Aufzug trat, hatte er gespürt, daß es an die- sem Tag passieren würde. Als mehrere seiner Vorgesetz- ten »Guten Morgen, Walt« sagten, entdeckte er eine ganz leise Andeutung von Sorge hinter ihrem Lächeln; und heute nachmittag, als er über die Schwingtür des kleinen abgeteilten Raums, in dem er arbeitete, schaute, traf sich sein Blick zufällig mit dem von George Crowell, dem Ab- teilungsleiter, der mit Papieren in der Hand zögernd auf der Schwelle zu seinem Büro stehenblieb. Crowell wandte sich rasch ab, aber Walter wußte, daß er ihn beobachtet hatte, besorgt, aber entschlossen. Nach wenigen Minuten war er sicher, daß Crowell ihn zu sich rufen und ihm die Kündigung mitteilen würde – unter Mühen selbstver- ständlich, weil Crowell die Art Boß war, die stolz darauf war, ein Pfundskerl zu sein. Es gab jetzt nichts weiter zu tun, als es geschehen zu lassen und zu versuchen, es mit so viel Anstand wie möglich hinzunehmen.
     Und von da an ließ ihm die Kindheitserinnerung keine Ruhe mehr, denn plötzlich kam ihm die Erkenntnis – und ihre Wucht ließ ihn den Daumennagel tief in das ver- steckte Streichholzbriefchen bohren –, daß es in gewisser Weise ein Muster seines Lebens war, Dinge geschehen zu lassen und sie mit Anstand hinzunehmen. Er konnte gewiß nicht in Abrede stellen, daß ihn die Rolle des guten Verlierers stets übermäßig angezogen hatte. Während sei- ner Jugend hatte er sich darauf spezialisiert, er hatte bereit- willig Kämpfe mit stärkeren Jungen verloren und schlecht Football gespielt in der geheimen Hoffnung, verletzt und auf dramatische Weise vom Platz getragen zu werden ( »Eins muß man dem alten Henderson jedenfalls lassen«, hatte der Trainer in der Highschool gesagt und dabei in sich hineingelacht, »er ist wirklich ein kleiner Maso- chist«). Das College hatte ihm eine größere Bandbreite für sein Talent geboten – es gab Prüfungen, durch die man rasseln, und Wahlen, die man verlieren konnte –, und später hatte es ihm die Air Force ermöglicht, ehren- haft als Flugkadett auszuscheiden. Und jetzt schien es, unvermeidlicherweise, daß er wieder einmal zu Hoch- form auflaufen sollte. Die Stellen, die er vor dieser inne- gehabt hatte, waren Anfängerjobs gewesen, wo man kaum etwas falsch machen konnte; als sich die Gelegenheit zu dieser Stelle bot, war es, mit Crowells Worten, »eine rich- tige Herausforderung« gewesen.
     »Gut«, hatte Walter gesagt. »Das ist es, wonach ich suche.« Als er diesen Teil des Gesprächs seiner Frau schil- derte, sagte sie: »Oh, wunderbar«, und daraufhin waren sie in eine teure Wohnung in der Upper Eastside gezogen. Als er in jüngster Zeit niedergeschlagen nach Hause kam und dunkel andeutete, daß er bezweifle, ob er noch lange durchhalten könne, schärfte sie den Kindern ein, ihn nicht zu belästigen (»Papa ist heute abend sehr müde«), brachte ihm einen Drink und beruhigte ihn mit umsich- tigen, ehefraulichen Beteuerungen, tat ihr Bestes, um ihre Angst zu verbergen, und hatte keine Ahnung oder zeigte es zumindest nicht, daß sie es mit einem chronischen, zwanghaften Versager zu tun hatte, mit einem merkwür- digen kleinen Jungen, der in die Pose des Zusammen- bruchs verliebt war. Und das Erstaunliche, dachte er, das wirklich Erstaunliche war, daß er selbst es nie zuvor

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