Elf Leben
Mann, halt an«, ruft Marco, aber er kann nur noch lallen, Alessandros Hände liegen unsicher auf dem Lenkrad, und sie rasen an der Stelle vorbei, wo Xavier vor Monaten Frankie Carstairs zurückließ.
Alessandro, das elfte Glied in der Kette, sieht, dass sich vor ihm auf der Straße etwas bewegt, und haut wie ein Wilder auf die Hupe. Der indische Ladenbesitzer unten am Hügel, auf dem Rückweg von einem Arzttermin, bleibt abrupt stehen, den Mund vor Entsetzen ein Stück geöffnet.
Xavier durchlebt genau zwei Sekunden zwischen dem Moment, in dem er Jamie auf die Straße rennen sieht, und der Einsicht, dass das Auto, das plötzlich als metallisches Flirren auf sie zugerauscht kommt, Jamie erfassen und töten wird. In der ersten Sekunde kommen ihm viele einzelne Gedanken, und er sieht sie alle auf einmal vor sich wie ein Kartenspieler mit seinem aufgefächerten Blatt in der Hand. Er denkt an Michael, nicht bäuchlings auf dem Boden, wie er ihn zuletzt sah, sondern so, wie er jetzt sein muss, wie er auf seinen kleinen Beinchen herumläuft. Er hört Mels animalisches Gebrüll, fühlt sich irgendwie, als hätte er Pippa im Arm, und sieht einen Scrabble-Beutel vor sich, in dem er gleich wühlen wird, um Buchstaben auszutauschen. Ihm fällt ein, wie sein Dad einmal sagte, dass niemand so richtig weiß, was er eigentlich tut auf der Welt, und genau wie George Weir während seines Herzinfarkts vor einigen Monaten hat er eine Erinnerung aus der Schulzeit: wie Russell mit Matilda auf dem Rücken auf allen Vieren über den Boden tappt, und das Haar hängt ihr ins Gesicht, und sie hat eine blutverkrustete Nase.
In der anderen Sekunde, in der es ihm vorkommt, als würden ihm zwei Hände von hinten einen Schubs geben, rennt Xavier wie ein Irrer auf die Straße. Er packt Jamie und stößt ihn mit aller Kraft aus dem Weg. Mel, die immer noch die Hände auf den Mund presst, und der statuengleiche indische Ladenbesitzer sehen aus ihren verschiedenen Blickwinkeln, wie Xavier durch den Aufprall des Wagens in die Luft geschleudert wird.
Es mag so aussehen, als wären die Ereignisse nun schließlich an ihrem Höhepunkt angelangt, als wäre das das Ende der Kette. Aber Xavier, der für den Bruchteil einer Sekunde über dem Boden schwebt, hat ein ganz anderes Gefühl. Vielleicht spürt er, dass es nicht sein Ende sein muss, wenn sein Körper gleich auf dem Asphalt aufschlägt, dass er irgendwie überleben wird, denn trotz all ihrer kühlen Logik setzt sich die Welt auch gern über ihre eigenen Regeln hinweg und gewährt Begnadigungen in letzter Minute. Vielleicht blickt er nach vorn in ein neues Leben, ein Leben mit Folgen: neue Chancen für Murray und Pippa, neue Wege, die sich von diesem, durch ihn mit hervorgebrachten Moment aus in die Zukunft öffnen. Auf jeden Fall spürt Xavier, als er zu Boden fällt, dass alle möglichen Dinge gerade erst beginnen.
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