Elf Leben
heutzutage überhaupt noch eine Funktion haben oder mehr oder weniger zur Zierde da sind, ob London sie als eine seiner berühmten Überspanntheiten beibehalten hat. Maggies rotes Seidennachthemd liegt zusammengerafft in ihrem Schoß. Seufzend denkt sie an einen ihrer empfindlicheren Klienten, einen Politiker, der – selbst jetzt, in diesem Moment – zu den Menschen in London gehört, die Ehebruch begehen. In der heutigen Sitzung war er besonders schwierig, machte ihr absurde Drohungen, sie zu verklagen, sollte sie ihre Schweigepflicht missachten. Soll er doch zur Hölle fahren, denkt sich Maggie, in deren Bauch es rührt und rumort. Ich habe es nicht nötig, mich so zu fühlen. Meinetwegen kann er tot umfallen.
Nur ein paar Häuser weiter fällt George Weir, ein Maurer im Ruhestand, tatsächlich tot um. Er und Maggie haben einander ein paarmal auf der Straße zugenickt, aber nie ein Wort gewechselt. Während Xavier drei Meilen weiter westlich einen Schluck Kaffee trinkt, erleidet George einen Herzanfall und ringt verzweifelt nach Luft, doch es ist, als wäre eine Folie über seinen Mund gespannt. Zentimeter für Zentimeter windet er sich zum Telefon, um seine Tochter anzurufen, aber es ist zu spät, und sie könnte ohnehin nichts mehr tun. Genau in dieser Woche ist es siebzig Jahre her, dass er in Sunderland geboren wurde. Eigentlich wollte er morgen zum Treffen seines Bowls-Clubs gehen, das jedoch ausfallen wird wegen des Wetters, und in der kommenden Woche abermals, als Geste des Respekts ihm gegenüber.
Einer von George Weirs letzten Gedanken auf dieser Welt ist eine Erinnerung daran, wie er einmal ein lateinisches Verb konjugieren musste – audere , wagen – und wie ihm Mr. Partridge, als er mittendrin nicht weiterwusste, auf die Fingerknöchel schlug. Mehr als ein halbes Jahrhundert danach fällt ihm ein, wie es weitergehen muss. Während er vergeblich nach Luft ringt, erinnert er sich außerdem, wie er vor vielleicht fünfundzwanzig Jahren von Mr. Partridges Tod erfuhr und eine gewisse Befriedigung darüber verspürte, dass die Generation von Pedanten und Sadisten, die ihm die Schulzeit zur Hölle gemacht hatten, endlich ausstarb. Aber jetzt, und das ist unvorstellbar, stirbt George selbst, und die Zeit wird ihn ebenso unbarmherzig auslöschen wie Mr. Partridge und all die anderen.
Lieber Gott, denkt er – obwohl er nie gläubig oder sonderlich emotional gewesen ist –, lieber Gott, lass es das nicht gewesen sein. Aber das ist es gewesen. George wird bald einen Herzstillstand erleiden, und wenn Xavier und Murray dann nach Hause fahren, wird er mit überstrecktem Kopf und aufgerissenem Mund darauf warten, dass ihn einer von Maggies Nachbarn findet. In ein paar Tagen wird ein Leichenwagen mit seinen sterblichen Überresten feierlich durch den letzten Schnee zum Abbey Park Cemetery fahren, und Xavier wird ihn von seinem Wohnzimmerfenster aus flüchtig sehen. Vorläufig jedoch blickt er zum Fenster des Studios hinaus auf diese Leinwand voll winziger, unbeobachteter Ereignisse.
»I-i-in fünfundvierzig Sekunden geht’s weiter«, sagt Murray, lehnt sich wieder in seinen Drehstuhl und schwenkt sanft hin und her. Xavier denkt noch einen Augenblick an seinen ersten Schnee an jenem Abend vor fünf Jahren, bevor er mit den Gedanken eilig in die Gegenwart zurückkehrt: in das kühle Studio und zu den Anrufern, die darauf warten, dass er ihnen zuhört.
Als sie um kurz nach vier nach Hause fahren, sind die Straßen dick verschneit. Xavier, wohlproportionierte Einsneunzig groß, sitzt auf dem Beifahrersitz, die Lederjacke eng um den Körper geschlungen, und trommelt mit den Füßen auf das Bodenblech, um sich aufzuwärmen. Murray, stämmig und mit buschigem Haar, steuert den Wagen ruckweise vorwärts, als würde er ein bockiges Pferd antreiben.
»Klasse Sendung heute«, sagt Murray und nickt mit seinem Lockenschopf. »Aber der Typ mit den drei Frauen war ein Langweiler. Den hätten wir eher abwürgen sollen.«
»Ich finde, wir mussten ihn dranbehalten. Er klang ziemlich einsam.«
»Bist ein guter Junge, Xavier.«
»Soweit würde ich nicht gehen.«
Es folgt eine irgendwie drückende Stille. Murray räuspert sich. Das dienstbeflissene Klick-Klick der Scheibenwischer verstärkt noch den Eindruck, dass er gleich etwas Wichtiges sagen wird.
»W-w-was hältst du davon, wenn wir heute zu einem Speed-Dating-Abend gehen? In dieser Kneipe da, in Ca-camden.«
»Was?«
»Du weißt schon, Speed Dating. Du gehst
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