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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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zuckt zusammen, und die Jungen lachen. Er hat schon genug von dieser Situation und will nur noch weg. Er ist über dreißig, diese Jungen sind nicht einmal halb so alt, und trotzdem, denkt er ärgerlich, trotzdem habe ich Angst vor ihnen.
    »Lasst ihn einfach in Ruhe«, sagt er noch einmal, dreht sich dann aber um und geht, und seine Wangen glühen von dem rauen Triumphgelächter, das über seine Schulter zu ihm dringt.
    Er sucht, so schnell er kann, das Weite, ohne sich noch einmal umzudrehen und zu sehen, wie der Junge weiter gequält wird. In der sicheren Bayham Road Nr. 11 angekommen, wirft er die Tür zu, schüttelt den Schnee von seinen Hosenaufschlägen und geht die Treppe hinauf, vorbei an der Erdgeschosswohnung, wo Jamie von einer Fernsehsendung besänftigt wird – »Here we go, here we go, here we go again!«, singt eine gekünstelte, hektische Frauenstimme.
    Den ganzen Nachmittag denkt er mit Unbehagen an den Vorfall zurück und wird das Gefühl nicht los, dass er noch mehr hätte tun können. Natürlich hätte er auch viel weniger tun können – einfach wegsehen. Das wäre vielleicht besser gewesen als dieser halbherzige Versuch. Er fragt sich, in welchem Zustand der Junge wohl nach Hause gegangen ist, lässt diese Spekulation aber sofort wieder sein. Er erweckt den Gasherd zu fauchendem Leben und stellt einen Topf Suppe zum Aufwärmen darauf.
    Vielleicht, um an dem Rest schlechten Gewissens zu kratzen, den der Vorfall hinterlassen hat, widmet Xavier einen Teil des Nachmittags den Mails seiner Hörer. Nach der Sendung gibt er stets eine E-Mail-Adresse an, für die vielen Leute, die nicht durchgekommen sind, und seine Zuhörerpflichten gehen mittlerweile weit über die Grenzen der eigentlichen Sendung hinaus. Xavier versucht stets, sich auf eine Mail pro Person zu beschränken, um nicht in lange Korrespondenzen mit praktisch Unbekannten verwickelt zu werden, denn dazu reicht die Zeit einfach nicht; danach schickt er eine Standardmail, in der er auf andere Anlaufstellen verweist. Auch hier könnte er mehr tun, aber andererseits könnte er die Mails auch komplett ignorieren, wenn er wollte.
    Montags kommt es meist besonders dick: die freien Zeitmengen am Wochenende führen mitunter zu quälend detaillierten Bekenntnissen, zu besonders eindringlichen Hilferufen aus der Einsamkeit. An diesem Nachmittag haben die meisten Schreiber eher Praktisches auf dem Herzen.
    Xavier, was würdest du tun, wenn deine Frau ganz versessen darauf wäre, einen Bikini anzuziehen, du ihr aber – vorsichtig – beibringen willst, dass sie nicht die Figur dafür hat?
    Sie müssen mir helfen. Ich habe über 50000 Pfund Schulden. Meine Frau weiß nichts davon, meine Kinder auch nicht, niemand weiß etwas davon.
    Er fordert den Mann mit dem Bikiniproblem dazu heraus, sich zu überlegen, ob es nicht vielleicht um seine eigene Eitelkeit geht, und ermutigt den mit dem Schuldenproblem dazu, seiner Frau reinen Wein einzuschenken.
    Menschen mit Problemen haben sich schon immer instinktiv an Xavier gewandt, oder er hat irgendeine zufällige Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Er ist der Typ Mensch, der sich immer die Sorgen des Taxifahrers anhören muss oder mitfühlend nickt, wenn ihm ein Fremder im Aufzug plötzlich wortreich das Herz ausschüttet. Vielleicht hilft es, dass Frauen ihn gut aussehend finden (Vertraulichkeiten haben oft etwas Verführerisches, selbst sehr peinliche), aber vielleicht liegt es auch bloß daran, dass er die seltene Gabe hat zu schweigen. Xavier war es jedenfalls schon gewohnt, Leuten zuzuhören, bevor es Teil seines Jobs wurde – eigentlich entwickelte sich diese Gewohnheit schon, als er noch als Chris bekannt war.
    Einmal, mit Mitte zwanzig, hatte sich Chris auf der Straße über eine Stunde lang mit einem Unbekannten unterhalten. Es war an einem Abend Anfang Oktober, und Melbourne stimmte sich auf den bevorstehenden langen Sommer ein. Ein erster Anflug von Hitze erfüllte die Luft, und mitten im sanft verblassenden Blau des Himmels hing träge ein noch blasserer Mond. Chris’ Arm lag auf Matildas Rücken: Sie waren noch kein offizielles Paar, sondern befanden sich in jener spannend-quälenden Phase von zärtlichen Berührungen, Insiderwitzen und Kosenamen. Durch ihr verwaschenes Nirvana-T-Shirt fühlte er den Verschluss ihres BH s. An der Ecke Brunswick- und Johnston-Street trennten sie sich, die drei anderen gingen in eine Richtung und Chris in die andere, um eine Straßenbahn zu nehmen.
    An der

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