Elf Zentimeter
Verstörung.
»Er weiß doch schon, wie das geht, er hat doch einen Sohn«, sagte sie.
Meine Großmutter zwinkerte mir zu.
»Darüber kann man nie genug wissen«, sagte sie.
Rasch legte ich das Kamasutra zur Seite und packte das nächste Geschenk aus. Doch später in der Nacht nahm ich das Buch wieder zur Hand. Die Penisgröße war auch ein Thema darin. Hatte meine Großmutter alles mitbekommen und mir das Buch gerade deshalb geschenkt? Hatte sie sich womöglich schon damals, als ich als Bub nackt herumgelaufen war, gedacht: Das wird nichts oder zumindest nichts Richtiges?
Das Kamasutra pflegte einen nüchternen Umgang mit kleinen Schwänzen. Es empfahl eine Stellung, für die so ein Mann besonders prädestiniert war, weil ein großer Schwanz der Frau dabei Schmerzen verursacht hätte. Es ist eine Variante der Missionarsstellung, bei der sich der Mann die Unterschenkel der Frau gegen die Schultern lehnt. Dabei wird der Gebärmuttermund etwas nach vorne gedrückt und die Scheide also verkürzt. Auch beim Analverkehr sei ein kleiner Penis von Vorteil, hieß es in dem weisen Liebesratgeber. Wenn es Frauen gibt, die kleine Schwänze bevorzugen, sind sie vielleicht analfixiert. Vielleicht könnte ich mich auf Analsex spezialisieren?
Auf einmal musste ich lachen. Ich verstieg mich. Ich hatte mich so daran gewöhnt, über meine Schwanzlänge nachzugrübeln, dass ich gar nicht mehr damit aufhören konnte. Dabei ging mir in Wirklichkeit nur eine Sache durch den Kopf: Ich wollte mit Tatjana schlafen. Worauf wartete ich die ganze Zeit?
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36
K lopfzeichen vom Nebenbett am Bahnhof. Als Kind hatte ich mir nie vorstellen können, wie Buschtrommeln funktionierten. Inzwischen wusste ich, dass sich mit wenigen Lauten komplexere Nachrichten übertragen ließen als via E-Mail.
»Ich habe Angst vor der Dunkelheit«, sagte Tatjana mit ihren Zeichen.
Ich wusste, was das bedeutete. Genug miteinander gelacht. Genug geträumt und geschwärmt. Genug wie zufällig berührt. Genug vertraut miteinander geworden. Genug geküsst und Händchen gehalten. Genug Petting gemacht.
Es war Zeit.
Ihre Unterwäsche sah reizvoll aus.
»Mach die Tür zu«, sagte Tatjana.
Mit einem Kuss zog sie mich aufs Bett.
Es gab nichts, worüber ich nachdenken musste. Wir waren eben wir und alles ging von selbst. Nachzudenken fing ich erst an, als wir etwas später zum zweiten Mal miteinander schliefen. Da versuchte ich mich an die Empfehlungen des Kamasutras zu erinnern. Tatjanas Laute bestätigten mir, dass ich mich für die richtigen Kapitel entschieden hatte.
»Pst«, sagte ich.
Ich wollte nicht, dass uns einer von den anderen Kollegen in den Nachbarzimmern hörte. Blöde Kommentare am nächsten Tag mussten nicht unbedingt sein.
»Pst.«
Am Morgen hatten sich all die dunklen Wolken, die so lange an meinem Lebenshimmel gestanden waren, zu kleinen weißen Schäfchen aufgelöst. Wir hatten in der Nacht kaum ein Auge zugemacht. Umso schöner war es, als wir am Morgen noch Zeit fanden, Kaffee miteinander zu trinken. Wir lächelten uns an und wussten beide, dass es kein One-Night-Stand gewesen war. Wir ahnten aber auch beide, dass wir nicht die große Liebe füreinander waren.
Ich wusste nicht genau, was ich für sie war. Sie war für mich die Frau, die mir geholfen hatte, meine Dämonen zu vertreiben, die ich so lange genährt und am Leben gehalten hatte. Ich empfand Dankbarkeit, Respekt wie für jemandem, den einem der Himmel geschickt hat, und ja, ich hatte natürlich noch immer zärtliche Gefühle für sie.
»Ich hatte furchtbare Angst, mit dir zu schlafen«, sagte ich.
»Ehrlich?«
»Ich dachte, du würdest meinen Schwanz vielleicht zu klein finden.«
»Soll ich dir was sagen?«
»Ja.«
»Ich hatte schon ein bisschen mehr Liebhaber, als ich zugegeben habe.«
Ich lachte.
»Keiner war so ein guter Liebhaber wie du.«
»Ehrlich?«
»Bei einigen bin ich schon gekommen. Irgendwie. Aber bei keinem so wie gestern Nacht.«
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37
I m Frühling machte ich mit Jakob und meinem Vater eine Wanderung auf die Rax. Ich war so fit wie schon lange nicht mehr. Ich spurtete voran und die beiden folgten mir mit hängenden Zungen.
An einer Weggabelung traten zwei Frauen in mein Blickfeld, deren helle Stimmen ich schon eine Weile zuvor gehört hatte. Ich wartete, damit Jakob und mein Vater aufschließen konnten.
Als die beiden Frauen näherkamen, erkannte ich zuerst Sabine und gleich darauf ihre Mutter.
»Hallo«, sagte ich.
»Hallo Stefan«,
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