Elfenblick
geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder.« Der Spruch stand oben auf der Seite. Mageli klickte auf »Kontakt« und schrieb sich die Adresse auf einen gelben Klebezettel, den sie auf die Zeitungsseite pappte. Dann faltete sie diese zusammen, steckte sie wieder in den Rucksack und fuhr den Rechner herunter.
Am liebsten wäre sie sofort nach Neuenburg gefahren und hätte sich in der Klinik umgeschaut. Aber erstens war es schon spät am Nachmittag, und Mageli hatte den Verdacht, dass Verwaltungsangestellte auch in einem Krankenhaus spätestens um vier Uhr den Kugelschreiber fallen ließen. Und zweitens fürchtete sie, dass der Zorn ihrer Mutter von Stunde zu Stunde wuchs. Sie hatte zwar jetzt schon keine Lust, sich Lindas Wut auszusetzen, aber sie würde ihre Situation nicht dadurch verbessern, dass sie das Abendessen verpasste. Wobei – Würstchen waren ja ohnehin keine mehr da. Mageli musste bei dem Gedanken erneut grinsen.
Hausarrest! Wenn sie nicht so sauer gewesen wäre, hätte Mageli sich schlapp gelacht. Diese Erziehungsmethode war doch völlig veraltet. Wer verdonnerte denn bitte seine sechzehnjährige Tochter zu einer Woche Hausarrest? Ihre Pläne, am Sonntag mit Rosann einen Ausflug zur Lichtung zu machen, konnte sie sich jetzt abschminken. Und ob ihre Mutter ihr erlauben würde, am Freitag bei dem Konzert mitzuspielen, war auch fraglich. Mageli schnaufte. Abwesend kraulte sie Shakespeare, der es sich neben ihr auf dem Bett bequem gemacht hatte, zwischen den Ohren.
»Du findest Hausarrest toll, was?« Shakespeare gab als Antwort ein vernehmliches Schnurren von sich. Von oben hörte Mageli die Stimmen ihrer Brüder, die sich stritten, wer von ihnen heute die Fernbedienung und damit die Herrschaft über die Auswahl des Programms hatte. Mageli stellte sich vor, wie Junior, Paul und Theo – jeder mit einer Tüte Chips in der Hand – sich auf dem schwarzen Ledersofa vor dem Fernseher lümmelten. Ihr Magen grummelte lautstark.
»Ohne Abendessen ins Bett«, hatte der zweite Teil von Lindas Strafe gelautet. Mageli ärgerte sich, dass sie nirgends in ihrem Zimmer geheime Schokoreserven versteckt hatte. Sie war einfach nicht in der Lage, Vorratshaltung zu betreiben. Essbares, das sich in ihrer Nähe befand, hielt sich selten länger als einige Stunden.
Shakespeare erhob sich von seinem Platz auf dem Bett, streckte erst die vorderen und dann die hinteren Beine in die Länge und machte einen beachtlichen Buckel. Dann sprang er in die Fensternische und maunzte.
»Hattest du auch noch kein Abendbrot?«, erkundigte sich Mageli. »Wobei Brot ja wohl kaum das ist, worauf du aus bist. Na los, geh Mäuse erschrecken.« Sie erhob sich und klappte für den Kater das Kellerfenster auf. Nachdenklich betrachtete sie die schmale Öffnung. Ob sie da wohl auch hindurchpasste? Dann ließ sie sich wieder aufs Bett fallen.
»Meister, ich mache mir Gedanken.« Damorian räusperte sich, doch die Gestalt in dem langen schwarzen Mantel drehte ihm weiter den Rücken zu. Der Meister stand über ein großes Stück Pergament gebeugt, das vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet lag. Damorian konnte nicht erkennen, was darauf geschrieben war.
»Das kann ich mir kaum vorstellen.« Die Bemerkung klang, als würde der Meister lachen. Unsicher trat Damorian von einem Fuß auf den anderen.
»Wirklich, Herr. Die alte Nachbarin, die uns seit Jahren unwissentlich als Spionin dient, behauptet zwar, es gäbe keine Veränderungen. Aber ich sehe, was ich sehe. Und ich sehe, dass das Mädchen etwas herausgefunden hat.«
»Soso.« Nun drehte sich der große, hagere Mann zu seinem Diener um, und Damorian wünschte sich augenblicklich, er hätte nichts gesagt. Der Blick, der ihn aus den nachtschwarzen Augen traf, fuhr ihm durch die Knochen und ließ ihn einen Schritt zurückweichen.
»Was bringt dich auf diesen … Gedanken?«, fragte der Meister. Damorian war nun sicher, dass es spöttisch klang. Er nahm seinen Mut zusammen.
»Ich weiß es nicht genau. Es ist mehr ein Gefühl. Sie wirkte irgendwie so … so hoffnungsvoll heute.« Damorian merkte selbst, wie dünn sein Argument war. Ein Gefühl, wie lächerlich. Als ob er besonders viel Ahnung von Gefühlen hatte. Dennoch war er überzeugt: Mit dem Mädchen stimmte etwas nicht! Zu seiner eigenen Überraschung zeigte der Meister sich einsichtig.
»Ich werde mich darum kümmern«, erklärte er und wollte sich wieder umdrehen.
»Aber, das kann ich doch übernehmen«,
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