Elfenblut
Bracks Leuten aber nicht?«, fragte Pia.
»Weil es einen Unterschied gibt. Auch sie sind auf der Suche nach der echten Gaylen, aber aus vollkommen anderen Gründen. Ich glaube nicht, dass diese Gaylen jemals zurückkommt. Und selbst wenn, glaube ich noch weniger, dass du es bist. Aber wenn sie zurückkommen würde, dann wäre das eine Katastrophe für dieses Land. Es käme zu Unruhen, Aufständen, vielleicht Krieg. Diejenigen, die mich geschickt haben, wollen das nicht. So einfach ist das.«
»Und deshalb soll ich verschwinden.«
»Zumindest aus WeißWald, ja. Danach helfen wir dir das Land zu verlassen.«
»Und wenn ich doch die echte Gaylen sein sollte?«
»Dann ist es umso wichtiger, dass du verschwindest«, sagte Hernandez. »Ich kann dir nichts versprechen, aber es gibt …vielleicht einen Weg, nach Hause zu kommen. Vielleicht auch nicht. Aber bei uns würdet ihr wenigstens weiterleben.«
»Und darauf habe ich Ihr Wort?«, vermutete Pia. »Wie beruhigend. Nein, mehr Beweise brauche ich wirklich nicht. Selbstverständlich kommen wir mit. Ich sage Alica gleich Bescheid, dass sie packen soll.«
Hernandez lächelte knapp. »Mir ist klar, dass du mir nicht glaubst. Ich an deiner Stelle würde es auch nicht. Warum sprichst du nicht mit deiner Freundin, und ihr stellt ein paar eigene Nachforschungen an?« Er stand auf, trank noch einen Schluck aus einem Krug und stellte ihn dann mit einem übertrieben heftigen Ruck auf den Tisch zurück. »Denk darüber nach. Ich komme zurück und dann reden wir.«
XXIII
W ie er es Istvan versprochen hatte, machte Brack an diesem Abend den Weißen Eber kurz nach Mitternacht dicht und komplimentierte die letzten Gäste hinaus. Das ging längst nicht bei allen ohne lautstarke Proteste und Widerstand ab und hätte in einem Fall beinahe zu Handgreiflichkeiten geführt, wären die beiden Soldaten nicht eingeschritten, von denen Pia nicht sicher war, ob sie durch den Lärm und die Aufregung angelockt von der anderen Straßenseite herübergekommen waren oder doch eher dem Befehl ihres Kommandanten gehorchten und sich überzeugten, dass Brack die vereinbarte Sperrstunde auch tatsächlich einhielt. Pia nutzte die Gelegenheit, sich rasch in ihr Zimmer zurückzuziehen, und als Brack kurz darauf an ihre Tür klopfte und um ein Gespräch bat, wimmelte sie ihn unter dem Vorwand ab, sich nicht wirklich wohlzufühlen und müde zu sein. Ganz leise meldete sich ihr schlechtes Gewissen – nachdem Hernandez gegangen war, hatte Brack mindestens ein Dutzend Mal versucht, ein unauffälliges Gespräch mit ihr zu beginnen, wohl um sich nach dem geheimnisvollen Fremden zu erkundigen, dessen Auftauchen sie so sichtlich verwirrte, aber sie war ihm (mit immer fadenscheiniger werdenden Ausreden) ausgewichen. Vielleicht sorgte er sich ja wirklich um sie. Von ein paar Kleinigkeiten abgesehen, für die er nichts konnte, weil er eben so war, wie er war, und sie sich in einer Welt befanden, die nach anderen Regeln und Gesetzen als den ihnen bekannten funktionierte, hatte Brack sich Alica und ihr gegenüber bisher tadellos verhalten und war tatsächlich (mit Ausnahme von Lasar vielleicht, aber den konnte sie immer noch nicht richtig einschätzen) der einzige Mensch, den sie hier mit Fug und Recht als Freund bezeichnen konnte. Vermutlich log Hernandez. Ganz bestimmt log Hernandez. Zu Hause in Rio de Janeiro hätte sie sich überzeugt, ob er die Wahrheit gesagt hatte, hätte sie ihn nur nach der korrekten Uhrzeit gefragt. Wieso also gestattete sie ihm jetzt, Zweifel in ihr Herz zu säen?
Die Antwort auf diese Frage blieb Pia sich schuldig – aber es war ihm gelungen.
Was, wenn er die Wahrheit gesagt hatte? Was, wenn alles, was er erzählt hatte, stimmte und Bracks vermeintliche Freundlichkeit nur dem einzigen Zweck diente, Alica und sie in Sicherheit zu wiegen, bis die Soldaten aus der Hauptstadt kamen und sie abholten?
Mehr als eine Stunde wälzte sie sich unruhig auf dem kalten Bett hin und her und versuchte vergeblich, den winzigen Kern von Wahrheit zu finden, der irgendwo in diesem Durcheinander aus Lügen und Halbwahrheiten verborgen sein musste. Aus dem Erdgeschoss drangen gedämpfte Geräusche herauf, leise Stimmen, die sie als die von Brack und Lasar identifizierte, die unten aufräumten und zu dieser ungewohnt frühen Stunde vermutlich ebenso wenig an Schlaf denken konnten wie sie, wenn auch aus ganz anderen Gründen.
Eine zweite Stunde verging, ohne dass es unten still geworden oder Alica
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