Elfenblut
der noch viel unmöglichere Himmel über ihnen blieben. Das einzig Neue war der Ausdruck auf Jesus’ Gesicht. Er starrte sie vollkommen fassungslos an. Er stellte keine einzige Frage, doch das war auch nicht nötig. Pia konnte sie von seinem Gesicht ablesen. Es war die gleiche Frage, die auch sie sich selbst stellte. Wie um alles in der Welt hatte sie das gemacht? Und was hatte sie überhaupt gemacht?
Sie schüttelte den Gedanken ab. Sie mussten hier raus, bevor sie vollends den Verstand verlor. Irgendwie.
»Wir gehen einfach den Weg zurück, den wir gekommen sind«, sagte sie, mehr an sich selbst als an Jesus gewandt. »Irgendwie finde ich schon raus.«
Jesus sparte sich jeden Kommentar dazu, aber der Blick, mit dem er sie maß, sprach Bände. Wortlos stand er auf, sah sie auffordernd an und machte auch nicht die geringsten Anstalten, von sich aus eine bestimmte Richtung einzuschlagen, als Pia einen einzelnen Schritt tat und dann wieder stehen blieb, um ihn demonstrativ hilflos anzublicken.
Pia gestand sich ein, dass er recht hatte. Ihre Idee war ja gar nicht so schlecht … aber sie hatte nicht mehr die geringste Ahnung, aus welcher Richtung sie gekommen waren.
Jesus sah sie weitere drei oder vier Sekunden lang vollkommen ausdruckslos an, hob dann die Schultern und ließ sich wieder in die Hocke sinken. Sein Blick tastete den Boden ab … oder um genau zu sein: den Schnee, der das verkohlte Holz der Dielen bedeckte.
Und um noch genauer zu sein: die Spuren, die Pia und er darin hinterlassen hatten.
Pia schenkte ihm den bösesten Blick, zu dem sie sich in diesem Moment aufraffen konnte, und folgte der verwischten doppelten Spur. Man musste kein direkter Nachkomme Chingachgooks sein, um die tiefen Abdrücke in dem verharschten Schnee zu sehen.
Allerdings hätten sie vermutlich nicht einmal Chingachgook selbst sonderlich weitergeholfen, denn sie hörten nach einem knappen Dutzend Schritten auf.
Pia blieb stehen, blinzelte, sah genauer hin und blinzelte noch einmal, aber es blieb dabei: Von allen Unmöglichkeiten, denen sie in den letzten Minuten hier begegnet war, war das die allerunmöglichste. Die Spuren hörten unmittelbar vor ihnen einfach auf. Oder begannen wie aus dem Nichts, das war eine Frage des Standpunktes.
»Und jetzt?«, wollte Jesus wissen. Pia hasste ihn beinahe für diese Frage.
Bevor sie jedoch antworten konnte, erscholl hinter ihnen ein lautstarkes Poltern und Krachen, gefolgt von einem gemurmelten Fluch – ganz eindeutig nicht in irgendeiner Steinzeitsprache, sondern in breitem Portugiesisch – und von einer Stimme hervorgestoßen, die sie nur zu gut kannte.
Hernandez schoss sofort, ohne das geringste Zögern und noch bevor er sich auch nur halb wieder aufgerichtet hatte, und der einzige Grund, aus dem er Jesus verfehlte und die Kugel eine Handbreit neben diesem in einen der verkohlten Balken fuhr, war vermutlich der Umstand, dass er Rechtshänder war und mit links schoss.
Weder Jesus noch sie warteten darauf, dass er besser zielte, sondern wirbelten auf den Absätzen herum und stürmten los. Hernandez brüllte etwas – einen unartikulierten Laut, der pure Wut ausdrückte –, sprang in die Höhe und verfehlte Jesus dieses Mal nur, weil er in seiner Hast den Schuss verriss, aber er machte sich auch unmittelbar an die Verfolgung. Sein Gesicht war eine einzige Maske aus Blut und tobendem Hass, seine rechte Hand eine heftig blutende Wunde, aber er ließ sich nicht abschütteln. Jesus und Pia rannten, so schnell sie es auf dem mit Schutt und Trümmern übersäten Boden nur wagten, aber er holte trotzdem auf und war jetzt höchstens noch fünf Meter hinter ihnen. Sein nächster Schuss verfehlte Jesus nur um Haaresbreite, und er hatte immer noch drei Kugeln in seiner Waffe. Und so rasend vor Wut, wie er im Moment war, konnte Pia nicht einmal sicher sein, dass Jesus ihm mit bloßen Händen gewachsen gewesen wäre.
Hernandez feuerte erneut. Die Kugel streifte Jesus’ Bizeps, hinterließ eine rauchende Spur in seiner Jacke und fügte ihm allerhöchstens einen schmerzhaften Kratzer zu, aber ihre schiere Wucht – vielleicht auch nur der Schreck – brachte ihn aus dem Tritt. Jesus stolperte, verlor einen oder zwei unendlich kostbare Meter Vorsprung, und Hernandez stieß einen schrillen, triumphierenden Schrei aus und zielte erneut und diesmal mit beiden Händen und ungeachtet der Tatsache, dass seine Rechte kaum mehr als ein blutiger Fleischklumpen war. Er konnte gar nicht mehr
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